"Wir stehen am Ende der Nahrungskette"

Präsident Prof. Dr. Christoph Landscheidt, Bürgermeister der Stadt Kamp-Lintfort, sprach mit dem Behörden Spiegel über die Entwicklung der Stadt, die wachsenden Sorgen über die Folgen der Unterfinanzierung der Kommunen und Hass und Hetze gegenüber der Kommunalpolitik. Das Gespräch in Auszügen.

Behörden Spiegel: Im Juni 2023 waren Sie 40 Jahre im Öffentlichen Dienst beschäftigt, davon 30 Jahre bei der Stadt Kamp-Lintfort, wo Sie seit 1999 Bürgermeister sind. Welche Meilensteine in der Entwicklung der Stadt können Sie ausmachen?

Landscheidt Kamp-Lintfort grenzt an das Ruhrgebiet an und hat durch den Stahl- und Bergbau dieselben Krisen durchlebt. Der Steinkohlebergbau in unserer Stadt endete nach mehr als 100 Jahren im Jahr 2012 und hat die ansässige Wirtschaft entscheidend geprägt. Das Ende des Bergbaus hat uns vor neue Herausforderungen gestellt. Das damalige Siemens-Werk versprach als drittgrößter Mobiltelefon-Hersteller Europas wirtschaftliche Stabilität, wurde allerdings geschlossen. Kamp-Lintfort musste sich also neu ausrichten.

Hier sehe ich verschiedene Projekte als Meilensteine: Ein guter Neuanfang war die Gründung der Hochschule Rhein-Waal. Sie ist mit über 2.300 Studierenden die größte Fakultät in Kamp-Lintfort und setzt innovative Schwerpunkte in der mittelständischen Wirtschaft. Außerdem haben wir auf der riesigen Industriebrache des ehemaligen Bergbaus auf mehr als 40 Hektar die Landesgartenschau 2020 organisiert. Kamp-Lintfort hat dabei neben Investitionen in zweistelliger Millionenhöhe auch von hunderttausenden Besuchern profitiert – trotz der Corona-Pandemie. Schließlich hat die erfolgreiche Teilnahme am Projekt Stadtumbau West die dynamische Stadtentwicklung befördert und zu einer Neugestaltung mit viel Potenzial geführt.

Aktuell ist mit einem eigenen Bahnhof der Anschluss ans Schienennetz geplant – ein weiterer Meilenstein.

Neben wirtschaftlichen Faktoren spielen auch soziale eine große Rolle – seit 2011 besteht ein Integrationskonzept. Wie hat sich das verändert? Welche Herausforderungen haben sich durch den stetigen Zustrom von Geflüchteten seit 2015 ergeben?

Landscheidt Leitbild unserer Stadt war und ist es, die Menschen, die zum Arbeiten und Leben hierher ziehen, bestmöglich zu integrieren. Das ist bereits zur Zeit des Bergbaus über viele Jahrzehnte hinweg gut gelungen, als Gastarbeitende aus anderen Ländern kamen. Die aktuelle Situation bei der Migration haben wir dank großen städtischen und ehrenamtlichen Engagements gut bewältigen können. Allerdings bereiten auch unserer Stadt personelle, finanzielle und räumliche Engpässe Probleme, wie sich zum Beispiel bei der Kinderbetreuung geflüchteter Familien zeigt. Hier liegt das Kernproblem darin, dass uns Land und Bund als Städte und Gemeinden nicht in der Weise unterstützen, wie es notwendig und wünschenswert wäre.

Sie sind seit November 2023 Präsident des Städte- und Gemeindebundes NRW. Welche Schwerpunkte haben Sie sich für die kommenden Jahre gesetzt?

Landscheidt Ich bin dort seit vielen Jahren in Gremien und im Präsidium tätig. Die dringlichsten aktuellen Probleme sind ebenfalls seit vielen Jahren unverändert: Zentral zu nennen ist hier die strukturelle Unterfinanzierung unserer Städte und Gemeinden. Im föderalen System sowohl unseres Staates als auch unseres Landes befinden sich die Städte und Gemeinden als Teil der Länder am Ende der finanziellen "Nahrungskette". Das bedeutet, dass wir darauf angewiesen sind, dass unsere finanziellen Ansprüche vom Land entsprechend ernst genommen und auch erfüllt werden. Für mich ist es unverständlich, dass das Land NRW insbesondere während der letzten Jahre stets auf den Bund verweist und beteuert, nicht über ausreichende finanzielle Mittel zu verfügen. Ohne Geld und ohne höhere Anteile am Steueraufkommen über das Gemeinde-Finanzierungs-Gesetz kann es nicht gelingen.

Ich schließe mich den altbekannten Forderungen an, den geltenden Verfassungsgrundsatz der Konnexität einzuhalten, um für die Zukunft eine Verbesserung zu erzielen. Vereinfacht gesprochen bedeutet das: Wer bestellt, muss auch bezahlen. Bund und Land sollten endlich aufhören, Aufgaben ohne angemessene finanzielle Ausstattung an die Städte und Gemeinden weiterzureichen. Dabei setze ich mich entschieden für einen grundlegenden Kurswechsel ein. Aktuell wird deutlich, mit welchen Schwierigkeiten dieses Vorhaben verbunden ist: Neben einem begrenzten Handlungsspielraum unsererseits stoßen wir zugleich auf geringe Resonanz bei der Landesregierung.

In den letzten Jahren hat die Zahl von Angriffen auf Kommunalpolitiker deutlich zugenommen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung und wie könnte man Ihrer Meinung nach entgegenwirken?

Landscheidt Das ist eine sehr besorgniserregende Entwicklung. Immer häufiger haben Menschen, die sich die Zeit für eine Tätigkeit im Stadtrat nehmen, unter Beschimpfungen oder Angriffen zu leiden. Es handelt sich dabei um ein gesamtgesellschaftliches Problem, wenn das Gegenüber im Gespräch nicht ernst genommen wird und sich daraus eine zunehmende Radikalisierung entwickelt.

Eine große Rolle spielt auch die hemmungslose Nutzung der sozialen Netze. Meiner Ansicht und Erfahrung nach sind unsere staatlichen Einrichtungen, die Polizei oder die Staatsanwaltschaften noch immer nicht effektiv genug ausgestattet, um solchen An- und Übergriffen wirkungsvoll entgegnen zu können, um diese Entwicklung einzudämmen. Natürlich stehen hier auch die Betreiber der sozialen Medien in der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen. Doch zusätzlich gäbe es Möglichkeiten, solche Verstöße und Übergriffe in einem deutlich stärkeren Ausmaß zu ahnden.

Bei Vorfällen vor Ort ist ein direktes Gespräch sicherlich hilfreich, auch darum, weil man dabei Meinungsverschiedenheiten direkt im persönlichen Kontakt ansprechen kann. Allerdings erreicht man dabei nicht solche Personen, deren Absicht Beschimpfungen und Angriffe sind. Hier müssen die staatlichen Kräfte viel aktiver werden.

Wir dokumentieren das Gespräch mit freundlicher Genehmigung des Behörden Spiegel. Die Fragen stellte Marlies Vossebrecker. Im Podcast gehen sie und Präsident Landscheidt näher auf Details ein und erweitern das Themenspektrum unter anderem um die Bezahlkarte für Geflüchtete.

Zum Interview im Behörden Spiegel

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