"Höhere Steuern können nicht die Lösung sein"

Vielfach hieß es im vergangenen Jahr, die Städte und Gemeinden stünden an der Abbruchkante. Im Jahres-Interview sprechen Präsident Prof. Dr. Christoph Landscheidt und Hauptgeschäftsführer Christof Sommer darüber, in welche Richtung es 2024 weitergehen wird.

Herr Prof. Dr. Landscheidt, seit November 2023 sind Sie Präsident des StGB NRW. Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?

Landscheidt Ich sehe meine Aufgabe vor allem darin, in aller Klarheit deutlich zu machen, dass unsere Demokratie ohne eine funktionierende Stadtgesellschaft massiv in Gefahr gerät. Ausreichend ausgestattete Kitas und Schulen, Sport- und Kultureinrichtungen sind die Basis dafür. Wenn Land und Bund uns dafür nicht die nötigen Mittel zur Verfügung stellen, gibt es keine kommunale Handlungsfähigkeit mehr. Leider passiert seit Jahren das Gegenteil. Land und Bund übertragen uns immer mehr Aufgaben, ohne auch nur annähernd die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Damit muss endlich Schluss sein.

Sommer Es geht dabei nicht nur um Geld. Es geht um das Fundament der Demokratie vor Ort. Wenn im Rat nur noch über Zumutungen entschieden werden kann, wird sich bald niemand mehr für ein kommunalpolitisches Ehrenamt hergeben. In Rheinland-Pfalz haben erst vor wenigen Tagen Gemeinderat und Bürgermeister hingeworfen, weil sie keine Perspektive mehr sahen, etwas gestalten zu können. Auch in NRW stehen wegen der Haushaltslage harte Debatten über Steuererhöhungen an. Wer so etwas beschließt, darf sich dann nachher noch in sozialen Netzwerken anfeinden lassen. Das ist eine Entwicklung, die uns große Sorgen macht.

Herr Präsident, erlauben Sie eine persönliche Frage: Was hat Sie in die Kommunalpolitik verschlagen?

Landscheidt Das war am Anfang keine „Liebesheirat“. Nach meiner Tätigkeit als Syndikusanwalt und Richter habe ich die Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltung erstmals in der Staatskanzlei NRW kennengelernt. Das fand ich so spannend, dass ich nach Kamp-Lintfort in die kommunale Praxis gewechselt bin. Ich finde es auch nach 25 Jahren immer noch so faszinierend wie am ersten Tag, hautnah bei den Entscheidungsprozessen zu sein, bei den Ergebnissen und bei den Menschen, die damit leben.

Herr Sommer, Sie sind Mitglied der CDU, Ihr Präsident ist Sozialdemokrat. Welche Rolle spielt das für die Arbeit des StGB NRW?

Sommer Natürlich gibt es unterschiedliche Meinungen, aber am Ende des Tages überwiegen die gemeinsamen kommunalen Interessen. Das hat beim StGB NRW gute Tradition. Entscheidungen im Präsidium fallen in aller Regel einstimmig aus. Wenn es darum geht, mit Blick auf sachliche Erfordernisse aus den parteipolitischen Schützengräben herauszukommen, können sich die Ebenen Bund und Land eine ganze Menge bei uns abgucken.

Landscheidt Da stimme ich Christof Sommer ausdrücklich zu. Wir werden politische Differenzen intern nicht zuschütten. Maßgeblich für unsere Arbeit im Verband ist aber, wen wir adressieren müssen, um Verbesserungen für die Kommunen zu erzielen. Ob CDU und Grüne im Land oder die Ampel auf Bundesebene.

Herr Sommer hat sich vor einem Jahr an dieser Stelle gewünscht, dass das Jahr 2023 den Kommunen wieder etwas Luft zum Atmen lässt.

Landscheidt Von Entspannung kann leider keine Rede sein. „Krisenmodus" ist zum Wort des Jahres 2023 gekürt worden, das spricht für sich. Energiekrise und Inflation scheinen wir halbwegs in den Griff bekommen zu haben, doch sind dafür die Probleme an anderer Stelle gewachsen: Flucht, Unterfinanzierung, Fachkräftemangel und das alles überlagert durch die Haushaltskrisen auf allen staatlichen Ebenen. Die Handlungsfähigkeit der Kommunen ist praktisch kaum noch vorhanden.

Sommer Obendrauf kommen dann noch neue und sehr herausfordernde Aufgaben, 2024 etwa die kommunale Wärmeplanung. Ein Großteil der Städte und Gemeinden steht vor einem Berg von Fragen und weiß nicht, welche Gelder zur Verfügung stehen, weiß nicht wie das Ausführungsgesetz des Landes aussieht und auch nicht, ob es in 20 Jahren Wasserstoff zu bezahlbaren Preisen geben wird. Gleichzeitig erwarten die Bürgerinnen und Bürger möglichst schnelle Antworten, auf welche Wärmeversorgung sie sich einstellen können. Das ist handwerklich schlecht gemacht, so gut und angemessen das Ziel der Dekarbonisierung auch ist.

Landscheidt Man muss sich klar machen, dass es hier um Milliarden geht und eine riesige Herausforderung. In etlichen Kommunen wird es in der Wärmeplanung auf 80 Prozent Wärmepumpe hinauslaufen. Dann droht vielen Stadtwerken der Konkurs, weil sie nicht das Geld für die Investitionen in die Stromnetze haben und gleichzeitig kein Gas mehr verkaufen können. Eine Krise der Stadtwerke bekämen die Städte und Gemeinden und deren Haushalte unmittelbar zu spüren.

Im September hat der StGB NRW in einem aufsehenerregenden Hilferuf an den Ministerpräsidenten auf die bereits jetzt schon katastrophale Haushaltslage vieler Kommunen hingewiesen.

Sommer Und nicht mehr als einige fragwürdige Erleichterungen im Haushaltsrecht bekommen. Auch das wird hunderte von Städten und Gemeinden nicht davor bewahren, über kurz oder lang in die Haushaltssicherung zu rutschen. Die Kommunen fahren schon viel zu lange auf Verschleiß, das fliegt uns jetzt mit den Krisen um die Ohren.

Landscheidt Die Enttäuschung in der kommunalen Familie ist riesig. Was muss eigentlich noch passieren? 355 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wenden sich mit einem Brandbrief an den Ministerpräsidenten persönlich, und es geschieht praktisch nichts. Uns hilft es auch nicht, wenn die Landesregierung nicht müde wird, immer nur auf tatsächliche oder vermeintliche Versäumnisse des Bundes zu verweisen. Nach unserer Verfassung sind die Städte und Gemeinden Teil des Landes, und deshalb ist allein die Landesregierung unsere Ansprechpartnerin.

Worauf müssen sich Bürgerinnen und Bürger jetzt einstellen?

Sommer Es ist schon mehrfach angeklungen. Wir sprechen hier von Zumutungen. Das heißt Verzicht bei höheren persönlichen Belastungen. Einige Kommunen haben bereits die Hebesätze bei Grund- und Gewerbesteuer angezogen, zum Teil massiv. Weitere werden folgen.

Landscheidt Viele Gemeinden haben schon alle Potenziale für Einsparungen ausgereizt. Dann sind Steuererhöhungen das einzige Mittel, das bleibt, da kann die Politik in Berlin und Düsseldorf noch so viel erzählen. Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen und unsere Pflichtaufgaben zu erfüllen. Wenn Kosten und Aufgaben aus dem Ruder laufen, bleibt uns nichts anderes übrig als Leistungen herunterzufahren und Belastungen zu erhöhen. Das aber kann nicht die Lösung sein.

Das wird ein Jahr vor den Wahlen viel Verdruss und Kritik provozieren.

Landscheidt Allerdings. Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und die Kommunalpolitik vor Ort sind der Prellbock, an denen sich der Unmut über die Landes- und Bundespolitik entlädt. Und schlimmer noch: Die wachsenden Defizite in den Städten- und Gemeinden und die daraus resultierende Unzufriedenheit der Menschen sind ein gefundenes Fressen für die Rechten, die unser Ministerpräsident völlig zurecht als Nazi-Partei bezeichnet. Dagegen hilft nur eine starke demokratische und handlungsfähige Stadtgesellschaft. Es ist fünf vor zwölf, uns dafür endlich die notwendigen Mittel in die Hand zu geben. Hier vor Ort begegnet Politik unmittelbar den Menschen, hier vor Ort entscheidet sich die Zukunft unserer Demokratie. Das sollte dem Land jede Anstrengung wert sein.

Was erwarten Sie konkret von Bund und Land?

Sommer Unser Präsident hat es schon gesagt: Spätestens jetzt muss die Politik erkennen, dass sie den Staat wieder vom Kopf auf die Füße stellen und die Kommunen auskömmlich finanzieren muss. Das ist viel verlangt, denn es setzt voraus, dass sich die Politik ehrlich macht und eingesteht, dass sie über viel zu lange Zeit die Substanz unseres Landes vernachlässigt und im gleichen Atemzug neue Standards aufgebaut hat. 

Wir erleben in diesen Wochen, was das bedeutet: Das Kita-System geht in die Knie, weil Fachkräfte und Finanzmittel fehlen und gleichzeitig bauen wir die Ganztagsbetreuung an den Grundschulen aus, weil wir ab 2026 einen Rechtsanspruch erfüllen müssen. Dabei war von Anfang an klar, dass die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind, weder beim Personal noch bei den Räumlichkeiten und der Finanzierung.

Landscheidt Was die Forderungen gegenüber dem Bund angeht, schließe ich mich im Wesentlichen den Forderungen unseres Bundesverbandes, dem DStGB an, dem ich als Vizepräsident vorstehe. 

Dazu zählen insbesondere

  • Die Schuldenbremse 2024 modifizieren und Investitionen in Klimaschutz, Klimaanpassung und Infrastruktur möglich machen

  • Der Bund übernimmt den größeren Teil der Steuerausfälle beim Wachstumschancengesetz

  • Die Länder ermächtigen, beim Rechtsanspruch Ganztag für bestimmte Regionen befristet Ausnahmen zu normieren, wenn der Anspruch nicht erfüllt werden kann

  • Förderprogramme des Bundes entbürokratisieren, an einer Stelle konzentrieren und deutlich vereinfachen, Standards reduzieren und auf ein gemeinsames Ziel konzentrieren

Unsere wichtigste Forderung an das Land ist in der Staatskanzlei bestens bekannt. Die Forderung nach einer höheren Steuerquote der Städte und Gemeinden liegt seit Jahren auf dem Tisch.

Was lässt Sie in dieser schwierigen Lage hoffen?

Sommer Klar ist, dass wir Abstriche machen müssen. Wir können in diesem großen Umbruch nicht alle Herausforderungen gleichzeitig und auch nicht in vollem Umfang bewältigen. Es gilt, Prioritäten zu setzen und Erwartungen einzufangen. Gleichzeitig haben wir etliche Potenziale noch nicht ausgeschöpft. Wir können und müssen effizienter werden. Die Mittel dazu kennen wir und arbeiten zielstrebig daran, nämlich Digitalisierung, interkommunale Zusammenarbeit und der systematische Abbau von Bürokratie.

Landscheidt Außerdem haben wir in den Kommunen etwas außerordentlich Kostbares: Die Nähe zu den Menschen. Wenn nicht hier vor Ort, wo dann haben wir eine Chance, mit den Menschen unmittelbar ins Gespräch zu kommen, Politik zu erklären und Vertrauen aufzubauen. Die damit verbundenen Zwänge und Einschränkungen muss man gut begründen und erklären, dann wird die deutliche Mehrheit akzeptieren, dass es ein „Weiter so“ nicht geben kann. Dazu gehören Mut und ein Verlassen der parteipolitischen Schützengräben. Das können wir schaffen. Deutschland ist noch immer ein reiches und starkes Land. Es kommt auf uns alle an, was wir daraus machen.

Das Interview im Ratssaal der Stadt Kamp-Lintfort führte Philipp Stempel, fotografiert hat Bettina Engel-Albustin, Foto-Agentur Ruhr-Moers.

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