Mitteilungen - Bauen und Vergabe

StGB NRW-Mitteilung 414/2002 vom 05.07.2002

Verzicht auf Erschließungsbeiträge

1. Zur Auslegung der vertraglichen Vereinbarung einer Gemeinde mit einem Grundstückseigentümer, daß "Erschließungsbeiträge nach dem Bundesbaugesetz nicht mehr erhoben werden."

2. Die Erhebung von Straßenbaubeiträgen kann Gegenstand vertraglicher Vereinbarungen zwischen beitragspflichtigem Grundstückseigentümer und der Gemeinde sein.

3. Landes- und Bundesrecht verbieten einen gegenleistungslosen, außerhalb eines Vergleichsvertrags vorgenommenen Abgabenverzicht ohne Vorliegen eines gesetzlichen Erlaßgrundes.

4. Landes- und Bundesrecht stehen einem Verzicht auf die Straßenbaubeitragserhebung durch Beitragsbescheid nicht entgegen, wenn der gesetzlich zu fordernde Beitrag wirtschaftlich vereinnahmt wird (Beitragsanrechnung). Das setzt voraus, daß die Leistung der Gemeinde nicht unangemessen gegenüber der Gegenleistung des Beitragspflichtigen ist, daß der Verzicht auf die Straßenbaubeitragserhebung durch Beitragsbescheid in einem sachlichem Zusammenhang zur Gegenleistung des Beitragspflichtigen steht und daß im Zeitpunkt des Vertragsschlusses die Höhe des Beitrags nicht völlig ungewiß ist.

OVG NRW, Urteil vom 19.03.2002 - 15 A 4043/00 -

Die im Laufe des gerichtlichen Verfahrens verstorbene ehemalige Klägerin (Erblasserin) war Eigentümerin von Grundstücken an der B.-Straße, in der die Stadt wegen einer neu angelegten Straße, in die die B.-Straße mündete, Abbiegespuren und einen Mittelstreifen anlegen wollte. In diesem Zusammenhang sollten auch Parkstreifen gebaut werden. Um für den Ausbau das nötige Gelände zu erwerben, traten die Erblasserin und die Stadt in Grundstückserwerbsverhandlungen ein, bei denen die Erblasserin von Herrn B., dem späteren Kläger zu 2., vertreten wurde. In einem von einer Bediensteten der Stadt verfertigten Vermerk heißt es: "Darüber hinaus möchte Herr B. geklärt wissen, inwieweit Erschließungs- und Anliegerbeiträge nach Straßenausbau auf ihn zukommen." Der notarielle Grundstückskaufvertrag enthält unter § 1 Abs. 5 folgenden Passus: "Die Käuferin versichert, daß für die Erschließungsanlage B.-Straße Erschließungsbeiträge nach dem Bundesbaugesetz nicht mehr erhoben werden." Nach dem Ausbau erhob die Stadt von der Klägerin Straßenbaubeiträge für die Anlegung von Parkstreifen. Die Anfechtungsklage gegen die Beitragsbescheide hatte in der Berufungsinstanz Erfolg.

Aus den Gründen:

Die angefochtenen Beitragsbescheide finden keine Rechtsgrundlage in § 8 KAG NRW. Die angefochtenen Beitragsbescheide sind schon deshalb rechtswidrig, weil sich der Beklagte vertraglich verpflichtet hat, solche Bescheide nicht zu erlassen. Dies ergibt sich aus § 1 Abs. 5 des Grundstückskaufvertrages.

Allerdings enthält dieser Vertragspassus dem Wortlaut nach lediglich eine Zusicherung, für die Erschließungsanlage B.-Straße keine Erschließungsbeiträge nach dem Bundesbaugesetz mehr zu erheben. Hier stehen jedoch Straßenbaubeitragsbescheide nach § 8 KAG NRW in Rede. Indes sind vertragliche Willenserklärung so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern (§ 157 BGB). Dabei ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften (§ 133 BGB). Diese zivilrechtlichen Auslegungsgrundsätze gelten auch dann, wenn der Vertrag ganz oder in dem hier maßgeblichen § 1 Abs. 5 als öffentlich-rechtlicher Vertrag zu qualifizieren ist.

Vgl. Bonk, in: Stelkens/Bonk/Leonhardt, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl., § 54 Rn. 34, § 62 Rn. 29; zur Qualifizierung gemischter Verträge § 54 Rn. 77 ff.

Das ergibt sich aus einer analogen Anwendung des § 62 Satz 2 VwVfG NRW, der hier wegen § 2 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW nicht unmittelbar anwendbar ist...

Unter Zugrundelegung dieser Auslegungsmaßstäbe hat sich der Beklagte in § 1 Abs. 5 des Vertrages verpflichtet, von der Erblasserin für den anstehenden Ausbau der B.-Straße, zu dessen Durchführung der Grundstückskaufvertrag abgeschlossen wurde, keine Beiträge zu erheben.

Der Wortlaut beschränkt sich, wie oben ausgeführt, auf die Erhebung von Erschließungsbeiträgen, erfaßt also Straßenbaubeiträge nicht. Indes kommt es darauf nicht an, da die Abgrenzung dieser Beitragsarten nur Juristen mit speziellen Kenntnissen auf dem Gebiet des Beitragsrechts klar ist. Der Erblasserin und dem Kläger zu 2. als deren Vertreter bei den Kaufvertragsverhandlungen als Nichtjuristen war die gegenständliche Reichweite des Begriffs "Erschließungsbeitrag nach dem Baugesetzbuch" nicht klar. In einem solchen Fall, in dem ein Vertragspartner den Vertragstext vorformuliert, wie dies hier geschehen ist, und dabei eine Formulierung wählt, deren genaue Reichweite außerhalb spezialisierter Kreise nicht bekannt ist, kann vom Erklärungsempfänger nicht erwartet werden, daß er die Erklärung in diesem speziellen Sinne versteht...

Die Erklärung des Beklagten in § 1 Abs. 5 des Vertrages mit dem so gefundenen Inhalt ist wirksam. Soweit der Vertrag wegen seines grundstücksbezogenen Teils notarieller Beurkundung (§ 313 Satz 1 BGB) bzw. wegen § 1 Abs. 5 des Vertrages nach den Regeln über öffentlich-rechtliche Verträge entsprechend § 57 VwVfG NRW der Schriftform bedurfte, ist dies auch hinsichtlich der Erklärung mit dem oben genannten Inhalt eingehalten. Auch bei formbedürftigen Erklärungen können Umstände außerhalb der Urkunde bei der Auslegung mitberücksichtigt werden. Erforderlich ist nur, daß der durch Auslegung ermittelte Inhalt der Erklärung einen - wenn auch nur unvollkommenen - Ausdruck in der Urkunde gefunden hat (Andeutungstheorie).

Vgl. BGH, Urteil vom 17.02.2000 - IX ZR 32/99 -, NJW 2000, 1569 (1570); Urteil vom 08.12.1982 - IVa ZR 94/81 -, BGHZ 86, 41 (45 ff.); Heinrichs, in: Palandt, BGB, 61. Aufl., § 133 Rn. 19.

Das ist hier geschehen. Unmittelbaren Ausdruck gefunden hat die Verpflichtung des Beklagten in § 1 Abs. 5 des Vertrages, keine Erschließungsbeiträge mehr zu erheben. Lediglich der Umfang dieses Beitragserhebungsverbots hat durch die Wahl des Begriffs "Erschließungsbeiträge nach dem Baugesetzbuch" einen unvollkommenen Ausdruck gefunden.

Die Erklärung des Beklagten ist vertretungsrechtlich wirksam abgegeben worden. Zwar regelte § 56 Abs. 1 Satz 2 GO vom 13.08.1984 (GV. NRW S. 475) - GO a.F. - (heute § 64 Abs. 1 Satz 2 GO NRW), daß Erklärungen, durch welche die Gemeinde verpflichtet werden soll, vom Gemeindedirektor oder seinem Stellvertreter und einem vertretungsberechtigten Beamten oder Angestellten zu unterzeichnen sind. Bei dem Grundstückskaufvertrag war die Stadt jedoch nur durch eine Person vertreten. Indes bedurften nach § 56 Abs. 3 GO a.F. Geschäfte, die ein für einen Kreis von Geschäften mit einer Vollmacht in der Form des Absatzes 1 Bevollmächtigter abschließt, nicht dieser Form. Dies war hier der Fall.

Die Verpflichtung, keine Beiträge in dem genannten Umfange zu erheben, konnte durch Vertrag eingegangen werden. Zwar regelt die Abgabenordnung, auf die § 12 Abs. 1 KAG NRW in weiten Teilen verweist, den öffentlich-rechtlichen Vertrag nicht ausdrücklich, sondern erkennt ihn nur mittelbar in § 78 Nr. 3 AO an. Jedoch kann daraus nicht auf ein Vertragsformverbot geschlossen werden.

Vgl. für den Bereich des Steuerrechts: Tipke/Kruse, AO und FGO, Loseblattsammlung (Stand: November 2001), § 85 AO Rn. 46, 52 ff.; kritischer Brockmeyer, in: Klein, AO, 7. Aufl., § 78 Rn. 4.

Vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, ob eine vertragliche Vereinbarung über einen Ausbaubeitrag inhaltlich zulässig ist.

Hier ist die Abmachung inhaltlich zulässig. Nichtig wäre die vertragliche Abrede, von der Erblasserin für den beabsichtigten Straßenausbau keine Beiträge zu erheben, wenn die Vereinbarung gegen ein gesetzliches Verbot verstieße (entsprechend § 59 Abs. 1 VwVfG NRW i.V.m. § 134 BGB). Das ist nicht der Fall.

Allerdings besteht nach § 8 Abs. 1 Satz 2 KAG NRW, wonach bei den dem öffentlichen Verkehr gewidmeten Straßen Beiträge erhoben werden sollen, eine Beitragserhebungspflicht. Dieses "Sollen" ist in der Regel einem "Müssen" gleichzusetzen; den Gemeinden steht dementsprechend nur ein sehr enger Ermessensspielraum zu. Die Vorschrift erlaubt aber - wie jede Sollvorschrift - ein Abweichen vom Regelfall dann, wenn besondere, als atypisch anzusehende Umstände dies rechtfertigen.

Vgl. OVG NRW, Beschluß vom 21.10.1997 - 15 A 4058/94 -, S. 9 des amtl. Umdrucks; Urteil vom 23.07.1991 - 15 A 1100/90 -, NWVBl. 1992, 288 (289); zur kommunalrechtlichen Pflicht zur Erhebung von Vorzugslasten vgl. Urteil vom 29.09.1995 - 15 A 1215/91 -, S. 10 ff. des amtl. Umdrucks.

In der Rechtsprechung ist anerkannt, daß ein Verzicht auf die Abgabenerhebung zulässig ist, wenn die Abgabeschuld durch eine andere Leistung des Abgabenschuldners als abgegolten angesehen werden kann.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 07.09.1976 - II A 1591/74 -, S. 18 des amtl. Umdrucks, vom 22.11.1971 - II A 38/70 -, OVGE 27, 147 (151), und vom 07.12.1970 - II A 148/69 -, OVGE 26, 131 (135 f.); Bay. VGH, Urteile vom 14.04.1989 - Nr. 22 B 87.839 -, ZfW 1990, 330 (332), und vom 28.05.1975 - 100 IV 70 -, DVBl. 1977, 394 (395); OVG Saarl., Beschluß vom 04.10.1982 - 3 W 1842-1875/82 -, AS 17, 431 (434); Urteil vom 18.08.1982 - 3 R 67/80 -, KStZ 1983, 76 f.; Hess. VGH, Urteile vom 03.02.1999 - 5 UE 2492/92 -, ESVGH 49, 151 (155 f.), und vom 29.03.1979 - V OE 55/76 -, KStZ 1980, 111 (112); a.A. OVG Rh.-Pf., Beschluß vom 09.09.1985 - 12 B 50/85 -, NVwZ 1986, 68; allgemein Dahmen, in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Loseblattsammlung (Stand: September 2001), § 4 Rn. 20 ff.

Diese Voraussetzung liegt hier vor. Der Verzicht auf die Beitragserhebung ist nicht gegenleistungslos im Sinne einer nach den Beitragsvorschriften nicht vorgesehenen Begünstigung, sondern im Rahmen eines zum Zwecke des Straßenausbaus geschlossenen Grundstückskaufvertrages als neben dem Kaufpreis weitere Gegenleistung für die Übertragung des Grundeigentums vereinbart worden. Diese Gegenleistung war angemessen, weil der Gesamtkaufpreis von 105.140,-- DM, den der Beklagte intern als "durchaus angemessen" bezeichnete, dadurch um nur 2.256,-- DM erhöht wurde, also um gut 2 %. Angesichts dessen ist es ausgeschlossen, daß durch die Beitragsanrechnung die Gesamtgegenleistung des Beklagten unangemessen wird...

Az.: II/1 643-00/1

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