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StGB NRW-Mitteilung 561/1996 vom 05.12.1996

Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht

1. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von EU-Richtlinien sind bisher nicht vom Bund in der vorgeschriebenen Frist in deutsches Recht umgesetzt worden. Das geht aus einer Übersicht der Europäischen Kommission zum Stand der EU-Binnenmarktgesetzgebung hervor. Demnach hat die Bundesrepublik Deutschland von den 219 Regelungen aus dem von der Europäischen Kommission Mitte 1985 vorgelegten "Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarkts", die derzeit in allen Mitgliedsstaaten in Kraft sein müßten, bis Mitte September 1996 nur 196 (90,4 %) vorschriftsmäßig in nationales Recht übertragen. Schlechter schneiden nur die 1995 zur Gemeinschaft gestoßenen Neumitglieder Finnland (87,7 %) und Österreich (83,1 %) ab. An der Spitze liegen Dänemark und die Niederlande (jeweils 99,1 %), gefolgt von Großbritannien (95,9 %). Die durchschnittliche Übertragungsrate betrug in der EU 92,9 %. Günstiger schneidet die Bundesrepublik Deutschland ab, wenn man die Gesamtheit der für den Binnenmarkt maßgeblichen 1.416 EU-Richtlinien betrachtet. Hier stand Deutschland Mitte Juli 1996 mit einer Übertragungsrate von 90,9 % auf Platz 7 und hob sich dadurch leicht vom EU-Durchschnitt (89,3 %) ab.

2. Nach der Rechtsprechung des EuGH wirken EU-Richtlinien unmittelbar, wenn die Umsetzung durch den Mitgliedsstaat nicht fristgemäß erfolgt und die Regelungen der Richtlinien hinreichend klar bestimmbar sind. Dies führt nach überwiegender Rechtsauffassung dazu, daß Städte und Gemeinden die EU-Richtlinien anwenden müssen, ohne daß hierzu vom Bund nationales Recht geschaffen wurde. Hierdurch wird die Verantwortung für die Umsetzung von EU-Richtlinien vom Bund auf einzelne Körperschaften, vor allem auf die Kommunen, verlagert. So hat der EuGH unter dem 05.03. 1996, 96 C 145/01, eine bedeutende Entscheidung zu Haftungsansprüchen gegen Mitgliedsstaaten der EU für Schäden, die dem Einzelnen durch diesem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, gefällt. Die besondere Bedeutung liegt darin, daß durch die Entscheidung verschuldensunabhängige Direkthaftungsansprüche einer Einzelperson gegen den Mitgliedsstaat wegen des Unterlassens der Umsetzung von EG-Recht begründet werden können.

Insbesondere führt der EuGH aus:

Der Grundsatz, daß die Mitgliedsstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem Einzelnen durch diesen Staaten zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, ist auch dann anwendbar, wenn der zu Last gelegte Verstoß dem nationalen Gesetzgeber zuzuschreiben ist. Ist ein Verstoß eines Mitgliedsstaates gegen das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Gesetzgeber zuzurechnen, der auf einem Gebiet tätig wird, auf dem er im Hinblick auf normative Entscheidungen über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, so hat der Geschädigte einen Entschädigungsanspruch, sofern die verletzte gemeinschaftsrechtliche Vorschrift bezweckt, ihm Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen diesem Verstoß und dem einzelnen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht. Unter diesem Vorbehalt hat der Staat die Folgen des durch den ihm zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstandenen Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben, wobei die im anwendbaren nationalen Recht festgelegten Voraussetzungen nicht ungünstiger sein dürfen als bei entsprechenden innerstaatlichen Ansprüchen; auch dürfen diese Voraussetzungen nicht so ausgestaltet sein, daß die Erlangung der Entschädigung praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert wird. Das nationale Gericht kann im Rahmen des von ihm angewandten nationalen Rechts den Ersatz des Schadens nicht davon abhängig machen, daß den staatlichen Amtsträger, dem der Verstoß zuzurechnen ist, ein Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) trifft, das über den hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht hinausgeht. Der von den Mitgliedsstaaten zu leistende Ersatz der Schäden, die sie dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht verursacht haben, muß dem erlittenen Schaden angemessen sein.

Auf der Linie dieser Rechtsprechung liegt auch die jüngst ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 08.10.1996, RsC-178/94 (MP-Travel). Danach muß die Bundesrepublik Deutschland für die Schäden haften, die Urlaubern im Jahre 1993 durch die verspätete Umsetzung der EU-Pauschalreisen-Richtlinie entstanden sind. Dadurch, daß die Bundesrepublik Deutschland die Regelung erst zum 01.11.1994 statt zum 01.01.1993 in nationales Recht umgesetzt habe und so das Konkursrisiko 1993 noch voll bei den Reisenden verblieben sei, habe der Staat seinen Bürgern einen konkreten Schaden zugefügt.

3. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Verwaltung, auch auf kommunaler Ebene, ebenso wie ein nationales Gericht verpflichtet, die EU-Richtlinien anzuwenden und diejenigen Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die damit nicht im Einklang stehen (EuGH, Urteil vom 22.06.1989, Rs 103/88, NvWZ 1990, S. 649 f.). Hieraus ergeben sich für Städte und Gemeinden zwei Problemkreise.

Zum einen folgt hieraus im Rahmen der oben geschilderten EuGH-Rechtsprechung die Konsequenz, daß sich Haftungsansprüche von Einzelpersonen auch gegen Städte und Gemeinden richten können, wenn sie unmittelbar gültiges EG-Recht nicht anwenden. Insbesondere auf dem Gebiet der öffentlichen Auftragsvergabe können sich infolge der Nichtanwendung noch nicht umgesetzter EU-Richtlinien erhebliche haftungsrechtliche Folgen ergeben.

Des weiteren stehen Städte und Gemeinden bei der unmittelbaren Anwendung noch nicht umgesetzter EU-Richtlinien vor erheblichen praktischen Problemen. Teilweise sind die Richtlinien inhaltlich derart kompliziert, daß ohne Vorkenntnisse nicht exakt festgestellt werden kann, welches inhaltliche Verständnis der Richtlinie richtig ist. Teilweise stammen die Richtlinien vom Inhalt und Formulierungsstil her auch aus einem fremden Rechtskreis und müssen deshalb erst für deutsches Rechtsverständnis "übersetzt" werden. Dies ist aber nach dem durch das Grundgesetz vorgegebenen Staatsaufbau nicht Aufgabe der Städte und Gemeinden. Hier ist ausschließlich der Bund gefordert, dessen Vertreter an der Erarbeitung der Richtlinien mitgewirkt und die Richtlinien im Ministerrat der EU mit beschlossen haben. Beim Bund ist das nötige Fachwissen vorhanden, das zur Umsetzung der Richtlinien erforderlich ist. Deshalb muß der Bund, wenn er die Richtlinien schon nicht fristgerecht umsetzt, durch Auslegungshinweise Städten und Gemeinden Hilfestellung bei der praktischen Anwendung der Richtlinien geben.

Az.: I/1 05-21 wi/gt

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