Mitteilungen - Bauen und Vergabe

StGB NRW-Mitteilung 626/2001 vom 05.10.2001

Mindestlöhne für ausländische Arbeitnehmer

Die Art. 59 EGV (nach Änderung jetzt: Art. 49 EG) und 60 EGV (jetzt: Art. 50 EG) verwehren es einem Mitgliedstaat nicht, einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, das Dienstleistungen im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats erbringt, die Verpflichtung aufzuerlegen, seinen Arbeitnehmern die in den nationalen Vorschriften dieses Staats festgelegten Mindestlöhne zu zahlen. Die Anwendung solcher Vorschriften kann sich jedoch als unverhältnismäßig erweisen, wenn es sich um Beschäftigte eines Unternehmens mit Sitz in einer grenznahen Region handelt, die einen Teil ihrer Arbeit in Teilzeit und für kurze Zeiträume im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten als desjenigen erbringen müssen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat. Die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats müssen daher feststellen, ob, und wenn ja, inwieweit die Anwendung einer nationalen Regelung, die einen Mindestlohn vorschreibt, auf ein solches Unternehmen erforderlich und verhältnismäßig ist, um den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer sicherzustellen.

EuGH, Urt. v. 15.03.2001 - Rs. C-165/98 (André Mazzoleni u. Inter Surveillance Assistance SARL)

Sachverhalt:

Ein französisches Unternehmen beschäftigte für die Bewachung einer Verkaufsgalerie Arbeitnehmer in Belgien. Die belgischen Behörden verlangten die Zahlung des belgischen Mindeststundenlohns. Das französische Unternehmen machte eine umfassende Einbindung der Arbeitnehmer in das französische Sozialsystem geltend, da die Arbeitnehmer zum Teil auch noch in Frankreich beschäftigt werden und der Einsatz in Belgien nicht längerfristig angelegt sei. Das Tribunal correctionnel Arlon legte dem EuGH gem. Art. 177 EGV (jetzt: Art. 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABlEG 1997 Nr. L 18, 1, im Folgenden: Richtlinie 96/71/EG) sowie der Art. 59 EGV (nach Änderung jetzt: Art. 49 EG) und 60 EGV (jetzt: Art. 50 EG) zur Vorabentscheidung vor. ...

Aus den Gründen:

Mit der Vorlagefrage wird im Wesentlichen danach gefragt, ob ein Unternehmen mit Sitz in einer grenznahen Region, von dem einige Beschäftigte möglicherweise einen Teil ihrer Arbeitsleistungen in Teilzeit und für kurze Zeiträume in dem angrenzenden Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat, erbringen müssen, die nationalen Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über Mindestlöhne zu beachten hat, wenn diese Arbeitnehmer im Niederlassungsmitgliedstaat einen vergleichbaren umfassenden Schutz genießen, auch wenn der Mindestlohn dort niedriger ist.

Da die ISA ihren Sitz in Frankreich hat und zeitweise Tätigkeiten in einem anderem Mitgliedstaat als dem ihres Sitzes ausübt, im vorliegenden Fall in Belgien, handelt es sich um eine Gesellschaft, die Dienstleistungen i. S. der Art. 59 und 60 EGV erbringt.

Diese Vorschriften des EG-Vertrags sind für die in einem Grenzgebiet ansässigen Dienstleistenden, die ihre Tätigkeiten regelmäßig in mehreren Mitgliedstaaten ausüben, von besonderer Bedeutung. ...

Der freie Dienstleistungsverkehr darf als fundamentaler Grundsatz des Vertrags nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten, soweit dieses Interesse nicht durch die Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist (vgl. u. a. EuGH, SIg. 1981, 3305 Rdnr. 17 = NJW 1982, 1203 - Webb; Urteil Säger, Rdnr. 15; Urteil Vander Elst, Rdnr. 16; Urteil Guiot, Rdnr. 11, und Urteil Arblade u. a., Rdnr. 34).

Die Anwendung der nationalen Regelungen eines Mitgliedstaats auf in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Dienstleistende muss geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (vgl. u. a. Urteile Guiot, Rdnrn. 11 und 13, und Arblade u. a.; Rdnr. 35).

Zu den bereits vom EuGH anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört der Schutz der Arbeitnehmer (vgl. u. a. Urteile Webb, Rdnr. 19, und Arblade u. a., Rdnr. 36).

Was konkret die nationalen Vorschriften über Mindestlöhne wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden betrifft, folgt aus der Rechtsprechung des EuGH, dass das Gemeinschaftsrecht es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt, ihre Rechtsvorschriften oder die von den Sozialpartnern geschlossenen Tarifverträge über Mindestlöhne unabhängig davon, in welchem Land der Arbeitgeber ansässig ist, auf alle Personen zu erstrecken, die in ihrem Hoheitsgebiet, und sei es auch nur vorübergehend, eine unselbstständige Erwerbstätigkeit ausüben (EuGH, SIg. 1982, 223 Rdnr. 14 = NJW 1982, 1935 - Seco und Desquenne & Giral; Urteile Guiot, Rdnr. 12, und Arblade u. a., Rdnr. 41). Folglich können die Rechtsvorschriften oder Tarifverträge eines Mitgliedstaats, die einen Mindestlohn garantieren, grundsätzlich auf die Arbeitgeber, die im Hoheitsgebiet dieses Staats Dienstleistungen erbringen, angewandt werden, unabhängig davon, in welchem Land sie ansässig sind (Urteil Arblade u. a., Rdnr. 42).

Somit verwehrt das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat nicht, einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, das Dienstleistungen im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats erbringt, die Verpflichtung aufzuerlegen, seinen Arbeitnehmern die durch die nationalen Vorschriften dieses Staats festgelegten Mindestlöhne zu zahlen.

Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es Umstände gibt, unter denen die Anwendung solcher Vorschriften im Hinblick auf das angestrebte Ziel, den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer, weder erforderlich noch verhältnismäßig ist. ...

Es handelt sich im Ausgangsverfahren um ein Unternehmen mit Sitz in einer grenznahen Region, von dem einige Beschäftigte für Dienstleistungen des Unternehmens möglicherweise einen Teil ihrer Arbeit in Teilzeit und für kurze Zeiträume im angrenzenden Gebiet eines anderen Mitgliedsaats als desjenigen erbringen müssen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat. ...

Zwar sehe die französische Regelung einen niedrigeren Mindestlohn vor als die belgische, doch müsse die Gesamtsituation berücksichtigt werden, d. h. nicht nur das Entgelt, sondern auch die steuerliche Belastung und die Belastung durch Sozialabgaben. Die dem französischen Sozialrecht und der französischen Besteuerung unterliegenden Beschäftigten befänden sich in einer ähnlichen oder sogar günstigeren Lage als derjenigen, die für sie nach der belgischen Regelung bestünde.

Unter solchen Umständen müssen - auch wenn anzuerkennen ist, dass eine Regelung des Aufnahmemitgliedstaats, die einen Mindestlohn vorschreibt, das legitime Ziel verfolgt, die Arbeitnehmer zu schützen - die nationalen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats vor deren Anwendung auf einen in einer angrenzenden Region eines anderen Mitgliedstaats ansässigen Dienstleistenden prüfen, ob die Anwendung dieser Regelung für den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer erforderlich und insoweit verhältnismäßig ist.

Das Ziel des Aufnahmemitgliedstaats, für Angestellte solcher Dienstleistenden das gleiche soziale Schutzniveau sicherzustellen wie es in seinem Hoheitsgebiet für Arbeitnehmer desselben Sektors gilt, kann nämlich als verwirklicht angesehen werden, wenn sich alle betroffenen Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat und im Niederlassungsmitgliedstaat hinsichtlich des Entgelts, der Steuerlast und der Sozialabgaben in einer insgesamt gleichen Lage befinden.

Ferner kann die Anwendung der nationalen Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über Mindestlöhne auf Dienstleistende, die in einer an den Aufnahmemitgliedstaat angrenzenden Region eines anderen Mitgliedstaats ansässig sind, zum einen zu unverhältnismäßig hohen zusätzlichen Verwaltungskosten führen, etwa für eine stundenweise Berechnung des angemessenen Entgelts für jeden Arbeitnehmer, je nachdem, ob er während seiner Arbeit die Grenze zu einem anderen Mitgliedstaat überschritten hat, und zum anderen zur Zahlung unterschiedlich hoher Entgelte an die Beschäftigten, die alle derselben Operationsbasis angehören und die gleiche Arbeit leisten. Die zuletzt genannte Auswirkung könnte wiederum Spannungen zwischen den Beschäftigten zur Folge haben und sogar die Kohärenz der im Niederlassungsmitgliedstaat geltenden Tarifverträge bedrohen.

In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens müssen daher die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats für die Beurteilung, ob die Anwendung der dort geltenden Mindestlohnregelung erforderlich und verhältnismäßig ist, alle maßgeblichen Elemente bewerten.

Bei dieser Bewertung müssen sie zum einen u. a. die Dauer der Dienstleistungen, ihre Vorhersehbarkeit und die Frage berücksichtigen, ob die Angestellten tatsächlich in den Aufnahmemitgliedstaat umgesetzt wurden oder ob sie weiterhin der Operationsbasis ihres Arbeitgebers in dessen Niederlassungsmitgliedstaat angehören.

Zum anderen müssen sie, um sich zu vergewissern, dass der Schutz der Angestellten im Niederlassungsmitgliedstaat gleichwertig ist, insbesondere die Höhe des Entgelts, die Dauer der Arbeit, auf die sich dieser Betrag bezieht, sowie die Höhe der Sozialabgaben und der steuerlichen Belastung berücksichtigen. ...

Az.: II/1 608-00

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