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StGB NRW-Mitteilung 448/2017 vom 08.08.2017

EuGH zu Geltung der Dublin-Verordnung in außergewöhnlichen Situationen

Der EuGH hat richtungsweisende Entscheidungen über die Asylpolitik in der EU getroffen. Ausnahmesituationen, wie der Flüchtlingsstrom 2015/2016, setzen das sog. Dublin-Verfahren nicht außer Kraft. Jedem Mitgliedsstaat bleibt es jedoch unbenommen, Asylverfahren freiwillig an sich zu ziehen. In einem weiteren Urteil stellt der EuGH klar, dass nach der Dublin III-VO eine strenge Dreimonatspflicht einzuhalten ist, in der ein Aufnahmeersuchen gestellt werden muss.

Lässt ein Staat diese verstreichen, kann der Geflüchtete nicht mehr nach der Dublin-VO zurückgeführt werden. In einer dritten „Vorabentscheidung“ bestätigt der zuständige Generalanwalt des EuGH die 2015 vom Rat beschlossene Flüchtlingsquote zur Umsiedlung von Asylbewerbern nach Ungarn und die Slowakei. Schließt sich der EuGH der Entscheidung an, sind beide Länder verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Entscheidungen sind aus kommunaler Sicht zu begrüßen. Sie sind als Aufforderung an die EU zu verstehen, sich künftig besser aufzustellen und bei allen Mitgliedsstaaten auf die Einhaltung ihrer Verpflichtungen in der Asylpolitik zu drängen. 

Ausnahmen wegen Situation 2015  

In zwei Verfahren (AZ: C-490/16 und C-646/16) entschied der EuGH über die Asylverfahren eines Syrers und zwei afghanischer Familien. Sie waren 2015 und 2016 aus ihrer Heimat geflohen und zogen über die sog. Westbalkanroute nach Slowenien und Österreich. Dabei passierten sie jeweils den EU-Staat Kroatien, wo die Behörden selbst den Transport zur Grenze zum benachbarten Slowenien organisierten. Der Syrer stellte anschließend in Slowenien einen Antrag auf internationalen Schutz, die Afghanen in Österreich. Slowenien und Österreich wollen sie nach der sog. Dublin III-Verordnung jeweils zurück nach Kroatien überstellen.  

Der EuGH bestätigt die geltenden EU-Asylregeln entgegen der Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston beim EuGH. Diese hat vertreten, dass unter den außergewöhnlichen Umständen der Flüchtlingskrise für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz der Mitgliedsstaat zuständig ist, in dem der Antrag zuerst gestellt wurde. Ein illegaler Grenzübertritt nach der Dublin-III-Verordnung liege nicht vor, wenn Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen der Union, die mit einem Massenzustrom von Drittstaatsangehörigen konfrontiert seien, diesen Menschen gestattet hätten, auf dem Weg in andere Mitgliedstaaten in ihr Hoheitsgebiet einzureisen und es zu durchqueren.  

Dies widerlegt der EuGH. Abweichungen vom Dublin-Verfahren während der Flüchtlingskrise 2015 waren trotz der Ausnahmesituation in Ländern wie Kroatien nicht zulässig. In beiden Fällen liege eine illegale Einreise nach Kroatien vor. Kroatien hatte Flüchtlinge aus humanitären Gründen nach Slowenien und Österreich durchreisen lassen — und damit nach Sicht des EuGH zu einem illegalen Grenzübertritt im Sinne der Dublin-III-Verordnung beigetragen. Würde die Einreise durch die Erlaubnis legal, würde dies den betreffenden Staat gerade von seiner Verantwortung für die Asylprüfung entbinden. Demnach sei Kroatien für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz von Migranten zuständig.  

Es bleibe jedoch jedem Mitgliedsstaat überlassen, sich solidarisch zu verhalten und von der sogenannten Selbsteintrittsklausel der Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen. Alle EU-Staaten, auch Deutschland, können demnach ein Asylverfahren freiwillig an sich ziehen.  

Der EuGH stellt damit klar, dass die Dublin III-VO auch während der Ausnahmesituation der „Flüchtlingskrise“ 2015/2016 gilt. Geflüchtete, die irregulär in andere Mitgliedsstaaten weiterreisen, können bei einem rechtzeitigen Aufnahmeersuchen innerhalb der Dreimonatsfrist (s. folgendes Urteil des EuGH) sowie Einhaltung der übrigen Verpflichtungen der Dublin-VO zurückgeschickt werden. Die Dublin-VO zwingt jedoch keinen Staat dazu. Die Mitgliedsstaaten können solidarische Ausgleichsmaßnahmen ergreifen und die Asylverfahren an sich ziehen oder sogenannte Umsiedlungsbeschlüsse zur Entlastung anderer Staaten herbeizuführen. Eine Aufnahmepolitik, wie sie die Bundesrepublik 2015/2016 verfolgte, kann damit als rechtmäßig eingestuft werden. 

3-Monats-Frist

In einem weiteren Verfahren (Az. C 670/16) entschied der EuGH über ein Überstellungsgesuch eines eritreischen Staatsangehörigen, der von Libyen über das Mittelmeer nach Italien und auf dem Landweg weiter nach Deutschland reiste, um dort Asyl zu ersuchen. Gemäß den nationalen Vorschriften stellten die deutschen Behörden ihm am 14.09.2015 auf sein formloses Asylgesuch eine Bescheinigung aus. Spätestens am 14.01.2016 erhielt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge — das mit der Durchführung der Verpflichtungen betraut ist, die sich aus der Dublin-III-Verordnung zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedsstaats ergeben — das Original dieser Bescheinigung, eine Kopie davon oder zumindest die wichtigsten darin enthaltenen Informationen.  

Erst am 22.07.2016 stellte der Eritreer in Deutschland einen förmlichen Antrag auf internationalen Schutz. Eine Abfrage des Eurodac-Systems ergab, dass in Italien die Fingerabdrücke genommen worden waren. Das BAMF ersuchte am 19.08.2016 die italienischen Behörden, den Kläger gemäß der Dublin-III-Verordnung aufzunehmen. Italien beantwortete dieses Gesuch nicht, was seiner Stattgabe gleichkommt. Am 10.11.2016 lehnte das BAMF den Asylantrag ab und ordnete seine Überstellung nach Italien an. Der eritreische Kläger ficht die Entscheidung vor dem VG Minden an. Er beruft sich auf die Nichteinhaltung der dreimonatigen Frist, innerhalb derer nach der Dublin-III-Verordnung ein Aufnahmeersuchen gestellt werden muss. Für die Prüfung seines Asylantrags sei Deutschland zuständig. Das VG rief den EuGH an. 

Der EuGH stimmte — ohne in der Sache zu entscheiden — den Argumenten des Klägers bei. Zunächst darf sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auf den Ablauf der fraglichen Frist von drei Monaten berufen, auch wenn der ersuchte Mitgliedstaat bereit ist, diese Person aufzunehmen. 

Der EuGH stellt fest, dass es nicht möglich ist, ein Aufnahmegesuch mehr als drei Monate nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz wirksam zu unterbreiten. Die Frist beginnt mit dem Antrag auf internationalen Schutz zu laufen. Dieser gilt als gestellt, wenn der mit der Durchführung der sich aus der Dublin-III-Verordnung ergebenden Verpflichtungen betrauten Behörde ein Schriftstück zugegangen ist, das von einer Behörde erstellt wurde und bescheinigt, dass ein Staatsangehöriger eines Nicht-EU-Landes um internationalen Schutz ersucht hat, oder, gegebenenfalls, wenn ihr nur die wichtigsten in einem solchen Schriftstück enthaltenen Informationen (und nicht das Schriftstück selbst oder eine Kopie davon) zugegangen sind.  

Der EuGH hat klargestellt, dass es nach der Dublin-Verordnung auch eine strenge Dreimonatspflicht gibt, um ein Dublin-Ersuchen zu stellen. Wenn die drei Monate verstrichen sind, dann ist der Mitgliedsstaat zuständig, in dem der Geflüchtete seinen Asylantrag gestellt hat. Eine Rückführung nach Dublin III ist dann ausgeschlossen. Der EuGH macht zudem klar, dass die Dublin-III-Verordnung kein rein zwischenstaatlicher Mechanismus mehr ist, sondern auch Einzelpersonen Rechte daraus entstehen, die sie geltend machen können. 

Flüchtlingsverteilung per Quote

Die EU-Staaten haben im September 2015 gegen den Willen der Slowakei, Ungarns, Tschechiens und Rumäniens die Umverteilung von bis zu 120.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland beschlossen. Dies sollte die beiden Hauptankunftsländer für Bootsflüchtlinge entlasten. Dagegen wehren sich die Regierungen in Bratislava und Budapest. Ungarn müsste laut Beschluss bis zu 1.294 Menschen aufnehmen, die Slowakei 802 Menschen. Beide Länder begründen ihre Klagen mit vermeintlichen Formfehlern und zweifeln die Rechtsgrundlage des Beschlusses an. 

In seinen Schlussanträgen schlägt der Generalanwalt Yves Bot dem Gerichtshof vor, die Klagen der Slowakei und Ungarns abzuweisen. Der Generalanwalt hebt unter anderem darauf ab, dass der angefochtene Beschluss nicht wegen seines Inhalts als Gesetzgebungsakt qualifiziert werden könne, denn der AEU-Vertrag unterscheide Rechtsakte mit Gesetzescharakter und solche ohne Gesetzescharakter nach einem rein formalen Konzept. Da der Beschluss ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter sei, hätten für seinen Erlass die Anforderungen hinsichtlich der Beteiligung der nationalen Parlamente nicht gegolten. 

Der Generalanwalt ist der Ansicht, dass Ungarn und Slowakei 2015 per Mehrheitsbeschluss im Europäischen Ministerrat dazu verpflichtet worden sind, einen Teil der Menschen aufzunehmen, die nach Europa geflüchtet sind. Die Schlussanträge stellen keine verbindliche Entscheidung dar. Sollte der EuGH dem Generalanwalt folgen, dann müssen die beiden Staaten Flüchtlinge übernehmen.  

Bewertung aus kommunaler Sicht

Die Entscheidungen sind aus kommunaler Sicht zu begrüßen. Die Urteile des EuGH stellen eine Aufforderung an die EU dar, sich auf künftige Situationen besser vorzubereiten und bei allen Mitgliedsstaaten auf die Einhaltung ihrer Verpflichtungen in der Asylpolitik und gemeinsamer Standards zu drängen. Zustände, wie in den Jahren 2015/ 2016 sollten sich nicht wiederholen; die Kommunen in Deutschland wären mit einer erneuten Aufnahme einer solch großen Anzahl an Flüchtlingen überfordert.  

Notwendig ist eine dauerhaft tragfähige Lösung, eine Neuausrichtung der europäischen Asylpolitik, mit der nicht nur einzelne, sondern alle Mitgliedstaaten in gleicher Weise in die Pflicht genommen werden. Hierzu gehört, dass einzelne Staaten, wie zum Beispiel Deutschland oder Schweden nicht die Hauptlast der Flüchtlingsströme zu tragen haben. Zugleich dürfen auch die Staaten an den EU-Außengrenzen, wie Griechenland und Italien, nicht überfordert werden. Die Verteilung der Flüchtlinge mit einem Asylanspruch muss europaweit nach festen Quoten erfolgen, die fair und solidarisch auf alle EU-Mitgliedsstaaten angewandt wird. Anerkannte Flüchtlinge müssen darauf verpflichtet werden, ihr Asylrecht alleine in diesem zugewiesenen Staat in Anspruch zu nehmen.  

International muss sich Deutschland gemeinsam mit den anderen EU-Staaten für die Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien in Krisenregionen einsetzen und die Umsetzung vereinbarter Ziele kontrollieren. Auch müssen die weiteren Fluchtursachen bekämpft werden. Dazu ist es nötig, die von den Krisen betroffenen Regionen nachhaltig zu stabilisieren, wirtschaftlich zu stärken und die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern. Die Flüchtlingslager außerhalb der EU brauchen weiter schnelle und nachhaltige Unterstützung, vor allem zur Sicherstellung ausreichender Ernährung, menschenwürdiger Unterkünfte und Bildungsperspektiven. (Quelle: DStGB Aktuell 3017 vom 28.07.2017)

Az.: 16.1.6

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