Mitteilungen - Bauen und Vergabe

StGB NRW-Mitteilung 76/2013 vom 20.12.2012

EuGH zu Anforderungen der vergaberechtsfreien In-House—Vergabe

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich in einem klarstellenden Urteil vom 29.11.2012 (in den verbundenen Rechtssachen C 182/11 und C 183/11) mit den Voraussetzungen der In-House-Vergabe bei gemeindlichen Kooperationen befasst. Dem Urteil zufolge sind die durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Voraussetzungen für eine vergabefreie öffentliche Auftragserteilung nur dann erfüllt, wenn in dem Fall, in dem mehrere öffentliche Stellen in ihrer Eigenschaft als öffentliche Auftraggeber gemeinsam eine Einrichtung zur Erfüllung ihrer Gemeinwohlaufgabe errichten oder eine öffentliche Stelle einer solchen Einrichtung beitritt, jede dieser Stellen sowohl am Kapital als auch an den Leitungsorganen der Einrichtung beteiligt ist.I. SachverhaltDie Comune di Varese gründete die Gesellschaft ASPEM, um auf ihrem Gebiet als „In-house“ Dienstleistungserbringerin öffentliche Dienstleistungen, insbesondere der Stadtreinigung, zu erbringen. Die Kommune besaß in diesem Zeitraum fast sämtliche Anteile an der Gesellschaft, was ihr die Kontrolle über diese sicherte.Im Jahr 2005 entschlossen sich die Comune di Cagno und die Comune di Solbiate auf dem Gebiet der Erbringung des städtischen Reinigungsdienstes, insbesondere der Dienstleistung der Beseitigung von festen städtischen Abfällen, für eine Koordinierung mit anderen Gemeinden. Zu diesem Zweck genehmigten sie den Abschluss einer Vereinbarung mit der Comune di Varese über die entgeltliche Vergabe des städtischen Reinigungsdienstes an ASPEM und traten dieser als öffentliche Anteilseigner bei, indem sie sich durch Zeichnung jeweils einer Aktie an ihrem Grundkapital beteiligten.Das Grundkapital von ASPEM beträgt 173.785 Euro, das in ebenso viele Aktien mit einem Nennwert von jeweils 1 Euro aufgeteilt ist. Die Comune di Varese besitzt mit 173.467 Aktien die Kapitalmehrheit. Die übrigen 318 Aktien verteilen sich auf 36 Gemeinden der Provinz Varese, die jeweils zwischen 1 und 19 Aktien halten.Zusätzlich zu dieser Beteiligung, unterzeichneten die beiden Kommunen zusammen mit anderen interessierten Gemeinden eine gesellschaftsrechtliche Nebenvereinbarung, mit der ihnen das Recht eingeräumt wurde, konsultiert zu werden, ein Mitglied des Aufsichtsrats und — im Einvernehmen mit den anderen an der Vereinbarung beteiligten Gemeinden — ein Mitglied des Verwaltungsrats zu ernennen.Ihrer Ansicht nach waren damit die Anforderungen für eine vergaberechtsfreie Auftragserteilung gewahrt, da die ASPEM bei der Durchführung der im öffentlichen Interesse liegenden Dienstleistungen, von den Gebietskörperschaften gemeinsam kontrolliert wurde.Dieser Auffassung widersprach die Econord SpA. Sie machte geltend, dass die Kontrolle der beiden Gemeinden über ASPEM im nicht gewährleistet sei.II. Urteil des EuGHNach feststehender Rechtsprechung des EuGH ist ein öffentlicher Auftraggeber wie eine Gebietskörperschaft davon befreit, ein Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags durchzuführen, wenn er über die beauftragte Einrichtung eine Kontrolle wie über seine eigenen Dienststellen ausübt und diese Einrichtung zugleich ihre Tätigkeit im Wesentlichen für den oder die öffentlichen Auftraggeber verrichtet, die ihre Anteile innehaben (Urteil „Teckal“, dort Rn. 50). Diese Rechtsprechung, die ursprünglich im Hinblick auf die Auslegung und die Anwendung der Richtlinie 93/36/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge (ABl. L 199, S. 1) erging, ist auch auf Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bau- und Dienstleistungsaufträge anwendbar.- Konkretisierung des “Kontrollkriteriums“ 

 

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH liegt eine "Kontrolle wie über eigene Dienststellen" vor, wenn die betreffende Einrichtung einer Kontrolle unterliegt, die es dem öffentlichen Auftraggeber ermöglicht, auf ihre Entscheidungen einzuwirken. Hierbei muss die Möglichkeit gegeben sein, sowohl auf die strategischen Ziele als auch auf die wichtigen Entscheidungen dieser Einrichtung ausschlaggebenden Einfluss zu nehmen (Urteile „Parking Brixen“, dort Rn. 65, „Coditel Brabant“, dort Rn. 28, und „Sea“, dort Rn. 65). Mit anderen Worten muss der öffentliche Auftraggeber in der Lage sein, eine strukturelle und funktionelle Kontrolle über diese Einrichtung auszuüben. Der Gerichtshof verlangt zudem, dass diese Kontrolle wirksam ist. Nach der EuGH-Rechtsprechung kann bei Einschaltung einer von mehreren öffentlichen Stellen gemeinsam gehaltenen Einrichtung die "Kontrolle wie über die eigenen Dienststellen" von diesen Stellen gemeinsam ausgeübt werden, ohne dass es notwendig wäre, dass diese Kontrolle von jeder von ihnen einzeln ausgeübt wird (in diesem Sinne Urteile „Coditel Brabant“, Rn. 47 und 50, sowie „Sea“, Rn. 59).Infolgedessen kann in einem Fall, in dem eine öffentliche Stelle einer Aktiengesellschaft mit vollständig öffentlichem Kapital als Minderheitsgesellschafterin beitritt, um dieser Gesellschaft die Verwaltung einer öffentlichen Dienstleistung zu übertragen, die Kontrolle, die die öffentlichen Stellen als Gesellschafter der Gesellschaft über diese ausüben, dann, wenn die Kontrolle von diesen Stellen gemeinsam ausgeübt wird, als Kontrolle wie über ihre eigenen Dienststellen angesehen werden (Urteil Sea, Randnr. 63). - Gemeinsame kommunale Einrichtungen: Auch Minderheitsbeteiligte müssen Kontrollbefugnisse innehaben

 

Unter diesen Umständen ist es, wenn mehrere öffentliche Stellen eine gemeinsame Einrichtung zur Erfüllung einer gemeinsamen Gemeinwohlaufgabe einschalten, zwar nicht unbedingt erforderlich, dass jede dieser Stellen allein ein individuelles Kontrollrecht über diese Einrichtung hat, doch darf die über die Einrichtung ausgeübte Kontrolle nicht nur auf der Kontrollbefugnis der öffentlichen Stelle beruhen, die Mehrheitsaktionärin der betreffenden Einrichtung ist, da andernfalls das Konzept der gemeinsamen Kontrolle ausgehöhlt würde.

 

Hat ein öffentlicher Auftraggeber innerhalb einer gemeinsam gehaltenen beauftragten Einrichtung eine Stellung inne, die ihm nicht die geringste Möglichkeit einer Beteiligung an der Kontrolle über diese Einrichtung sichert, würde damit nämlich einer Umgehung der unionsrechtlichen Vorschriften über öffentliche Aufträge und Dienstleistungskonzessionen Tür und Tor geöffnet, da ein rein formaler Beitritt zu einer solchen Einrichtung oder deren gemeinsamem Leitungsorgan diesen öffentlichen Auftraggeber von der Verpflichtung befreien würde, ein Ausschreibungsverfahren nach den Unionsvorschriften durchzuführen, obwohl er bei dieser Einrichtung in keiner Weise an der Ausübung der "Kontrolle wie über eigene Dienststellen" beteiligt wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil des EuGH vom 21. Juli 2005, Coname, C-231/03, Slg. 2005, I-7287, Rn. 24).

 

Rücküberweisung an vorlegendes Gericht

 

Daraus folgt, dass es in den Ausgangsverfahren Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob die Unterzeichnung der gesellschaftsrechtlichen Nebenvereinbarung durch die Comune di Cagno und die Comune di Solbiate, mit der ihnen das Recht eingeräumt wird, konsultiert zu werden, ein Mitglied des Aufsichtsrats und - im Einvernehmen mit den anderen an der Vereinbarung beteiligten Gemeinden - ein Mitglied des Verwaltungsrats zu ernennen, es diesen Gemeinden ermöglichen kann, tatsächlich zur Kontrolle von ASPEM beizutragen.Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass in einem Fall, in dem mehrere öffentliche Stellen in ihrer Eigenschaft als öffentliche Auftraggeber gemeinsam eine Einrichtung zur Erfüllung ihrer Gemeinwohlaufgabe errichten oder eine öffentliche Stelle einer solchen Einrichtung beitritt, die durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellte Voraussetzung für die Befreiung dieser Stellen von ihrer Verpflichtung, ein Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge nach den Vorschriften des Unionsrechts durchzuführen, nämlich dass diese Stellen über die Einrichtung gemeinsam eine Kontrolle wie über ihre eigenen Dienststellen ausüben, erfüllt ist, wenn jede dieser Stellen sowohl am Kapital als auch an den Leitungsorganen der Einrichtung beteiligt ist.

 

III. Anmerkung des Städte- und Gemeindebundes NRW

 

Mit seiner Entscheidung vom 29. November 2012 hat der EuGH die Anforderungen weiter konkretisiert, die er in seiner Rechtsprechung zu vergabefreien In-House-Geschäften an das “Kontrollkriterium“ stellt.So ist bei Kommunen mit Minderheitsanteilen an einer gemeinsamen - kommunal getragenen - Einrichtung für das Erfüllen des Kontrollkriteriums neben der reinen Kapitalbeteiligung auch eine “Kontrollbefugnis“ dieser Kommunen im Rahmen der Leitungsorgane erforderlich. In diesem Sinne präzisiert der EuGH das erste „Teckal-Kriterium“ und damit den Begriff der “Kontrolle wie über eigene Dienststellen“ dahingehend, dass diese nur dann vorliegt, wenn ein öffentlicher Auftraggeber (Gemeinde) sowohl am Kapital als auch an den Leitungsorganen der Einrichtung beteiligt ist.

 

Die einzelne Gemeinde muss somit insbesondere bei einer Minderheitsbeteiligung die Möglichkeit haben, sowohl auf die strategischen Ziele als auch auf die wichtigen Entscheidungen der beauftragten Einrichtung Einfluss zu nehmen und damit eine strukturelle und funktionelle Kontrolle ausüben. Es ist jedoch umgekehrt nicht erforderlich das jede einzelne Kommune ein individuelles Kontrollrecht besitzt, wenn mehrere Kommunen eine gemeinsame Einrichtung betreiben. Dennoch darf in diesem Fall der Mehrheitsbeteiligte nicht ausschließlich und alleine die Möglichkeit der Kontrolle innehaben. Festzuhalten ist daher, dass eine Kontrolle der einzelnen Kommune i.S. einer Vergaberechtsfreiheit dann nicht besteht, wenn diese keine Kontrollfunktion, sondern nur eine Kapitalbeteiligung innehat.

 

Ein rein formaler (Kapital-)Beitritt zu einer solchen Einrichtung oder dem gemeinsamen Leitungsorgan reicht daher nicht aus, um von einer “Kontrolle wie über die eigenen Dienststellen“ zu sprechen. Wie der EuGH in seiner Entscheidung ausführt, ist in diesem Sinne bereits das Coname-Urteil des EuGH vom 21. Juli 2005 zu verstehen. Im Ergebnis liegt aber in diesem aktuellen EuGH-Urteil keine Änderung der bisherigen Rechtsprechung, sondern „nur“ eine Klarstellung.

 

Es ist den Städten und Gemeinden, die Leistungen mit anderen Kommunen in einer gemeinsamen Einrichtung durchführen wollen und ggf. nur mit Minderheit an dieser Einrichtung beteiligt sind, aber zur Sicherstellung einer nicht erforderlichen Ausschreibungspflicht anzuraten, über eine Kapitalbeteiligung hinaus auch eine Beteiligung an den Leitungsorganen dieser gemeinsamen Einrichtung i.S. einer gemeinsamen Kontrollbefugnis zu gewährleisten. Dies kann etwa dadurch erfolgen, dass Vertreter mit Stimmrecht dergestalt in die Leitungsorgane entsandt werden, dass diese ausreichend Einfluss auf die gemeinsam getragene Einrichtung ausüben können.

 

Az.: II/1 608-00

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