Mitteilungen - Bauen und Vergabe

StGB NRW-Mitteilung 715/2021 vom 07.12.2021

BVerfG: Keine zeitlich unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen möglich

Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 03. November 2021 verstößt die zeitlich unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen gegen das im Grundgesetz verankerte Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit. Das KAG Rheinland-Pfalz muss bis Ende Juli 2022 entsprechend geändert werden. Aus kommunaler Sicht sorgt das Urteil einerseits für mehr Rechtssicherheit. Es bedarf jedoch schnellstmöglich einer verfassungsgemäßen Regelung im KAG, da eine im Urteil erwähnte Anwendungssperre negative Folgen für die betroffenen Kommunen mit sich bringt.

Zum Sachverhalt

Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist Eigentümer mehrerer Grundstücke und wendete sich gegen die Erhebung von Erschließungsbeiträgen für die Herstellung einer Straße. In den Jahren 1985/1986 wurde die an die Grundstücke des Klägers angrenzende Straße vierspurig mit einer Länge von knapp 200 Metern gebaut. 1991 zog die Stadt den Kläger zu Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag heran. Die zunächst vorgesehene vierspurige Fortführung der Straße wurde 1999 endgültig aufgegeben. Die Straße wurde stattdessen in den Jahren 2003/2004 zweispurig weitergebaut und in ihrer vollen Länge 2007 als Gemeindestraße gewidmet. Die Stadt setzte daraufhin für die hier maßgeblichen Flurstücke Erschließungsbeiträge fest. Dabei brachte sie die vom Kläger gezahlten Vorausleistungen in Abzug. Nachdem das Verwaltungsgericht zunächst zwei Bescheide aufhob, setzte die Stadt die beanstandeten Beitragsbescheide 2011 neu fest und erhob für ein einzelnes Flurstück einen Nacherhebungsbeitrag. Die dagegen gerichtete Klage blieb vor Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht überwiegend erfolglos. Die Beitragspflicht sei erst mit Widmung der Straße im Jahr 2007 entstanden. Die vierjährige Festsetzungsfrist sei somit erst am 31.12.2011 abgelaufen, also nach Erlass der angefochtenen Bescheide. Sie sei auch nicht nach Treu und Glauben ausgeschlossen.

Auf die Revision des Klägers setzte das BVerwG das Verfahren aus und legte dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vor, ob § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und ?vorhersehbarkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) vereinbar sei, soweit er die Erhebung von Erschließungsbeiträgen zeitlich unbegrenzt nach dem Eintritt der Vorteilslage erlaubt. Es ist der Überzeugung, dass die Regelungen keine hinreichende Berücksichtigung des Interesses des Beitragsschuldners an einer zeitlich nicht unbegrenzten Inanspruchnahme gewährleisteten. Im konkreten Verfahren sei die Vorteilslage im Ausgangsverfahren nicht erst mit der Widmung der Straße im Jahre 2007, sondern spätestens mit der endgültigen Aufgabe ihrer durchgehend vierspurigen Herstellung im Jahre 1999 eingetreten. Sei die Beitragserhebung danach mehr als zehn Jahre nach Eintritt der Vorteilslage erfolgt, so sei angesichts der in anderen Bundesländern geltenden Höchstfristen nicht von vornherein auszuschließen, dass eine vom rheinland-pfälzischen Gesetzgeber noch zu erlassende Regelung die Heranziehung des Klägers zu Erschließungsbeiträgen hindere und somit seine Beitragspflicht dem Grunde nach entfallen lasse.

Zur Entscheidung

Mit dem am 24. November 2021 veröffentlichtem Beschluss vom 3. November 2021 (1 BvL 1/19) hat der Erste Senat des BVerfG entschieden, dass § 3 Abs. 1 Nr. 4 des Kommunalabgabengesetzes Rheinland-Pfalz (KAG RP) mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) insoweit unvereinbar ist, als danach Erschließungsbeiträge nach dem Eintritt der Vorteilslage zeitlich unbegrenzt erhoben werden können. Die Beitragspflichten verjähren in Rheinland-Pfalz zwar vier Jahre nach Entstehung des Abgabeanspruchs. Der Beginn der Festsetzungsfrist knüpft damit allerdings nicht an den Eintritt der Vorteilslage an, weil die Entstehung des Abgabeanspruchs von zusätzlichen Voraussetzungen abhängt. So bedarf es unter anderem einer öffentlichen Widmung der Erschließungsanlage, die auch erst nach tatsächlicher Fertigstellung der Anlage erfolgen kann. Die tatsächliche Vorteilslage und die Beitragserhebung können somit zeitlich weit auseinanderfallen. Dies verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit.

Der Landesgesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.

Die wesentlichen Erwägungen des Senats sind der Pressemitteilung des BVerfG zu entnehmen unter: www.bundesverfassungsgericht.de

Anmerkung aus kommunaler Sicht

Grundsätzlich haben die Städte und Gemeinden durch das Urteil nun eine höhere Rechtsklarheit und die Bürgerinnen und Bürger können sich besser darauf einstellen, bis wann mit Beitragsbescheiden zu rechnen ist.

Nach dem Urteil ist die unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der Vorteilslage mit dem Grundgesetz unvereinbar. Der 1. Leitsatz des Urteils stellt auch klar, dass das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit sich auf alle Abgaben zum Vorteilsausgleich erstreckt, also nicht nur auf Erschließungsbeiträge.

Für die kommunale Praxis sind mehrere Aspekte von besonderer Bedeutung. Wann entsteht die Vorteilslage, ab welcher der mögliche Zeitraum der Erhebung von Erschließungsbeiträgen beginnt? Rn. 70 der Entscheidung formuliert hierzu:

„Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Erschließungsanlage die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm, also den in der Satzung geregelten Merkmalen der endgültigen Herstellung (vgl. § 132 Nr. 4 BauGB), und dem Bauprogramm erforderlichen Teileinrichtungen aufweist; diese wiederum müssen dem jeweils für sie vorgegebenen technischen Ausbauprogramm entsprechen. Demgegenüber kommt es nicht darauf an, ob weitere rechtliche Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht vorliegen.“

Die Erschließungsanlage muss demnach nach außen erkennbar technisch fertiggestellt sein, d.h. die Herstellungsmerkmale der Satzung und das Bauprogramm müssen erfüllt sein.

Nach Rn. 72 des Urteils soll gewährleistet sein, „dass die Entstehung der tatsächlichen Vorteilslage für die Betroffenen erkennbar ist. Denn es kommt hierfür weder auf die wirksame Widmung der Erschließungsanlage noch auf die Wirksamkeit der Beitragssatzung, die planungsrechtliche Rechtmäßigkeit ihrer Herstellung, den Eingang der letzten Unternehmerrechnung, die Mängelfreiheit der technischen Ausführung oder den vollständigen Grunderwerb an.“

Das Verständnis der Vorteilslage des BVerfG umfasst somit nicht den Grunderwerb, obwohl dieser wiederum meistens ein Herstellungsmerkmal der Satzung ist. Ebenso kommt es nicht auf die Öffentlichkeit der Anlage an. Hierzu hatte u.a. der DStGB in seiner Stellungnahme zum Verfahren darauf hingewiesen, dass erst mit der Widmung der Vorteil für das betreffende Grundstück dauerhaft gesichert sei (siehe Urteil Rn. 47).

Mit Fragen verbunden ist insbesondere die Aussage des BVerfG zu noch laufenden Beitragserhebungen und Verfahren am Ende des Urteils. Hier heißt es in Rn. 92:

„Der Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG führt lediglich zur Feststellung, dass § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP verfassungswidrig ist, soweit er keine Regelung der Höchstfrist vorsieht, bis zu der Erschließungsbeiträge nach Eintritt einer Vorteilslage erhoben werden können. Eine Nichtigerklärung kommt nicht in Betracht, da der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen (vgl. Rn. 57, 63). Folge der Erklärung der Verfassungswidrigkeit ist eine Anwendungssperre. Gerichte und Verwaltungsbehörden dürfen die Norm im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen (BVerfGE 122, 210 <246>; 133, 143 <162 Rn. 51>). Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine auf den gesamten von der Unvereinbarkeitserklärung betroffenen Zeitraum rückwirkende verfassungsgemäße Rechtslage herzustellen. Diese Regelung muss alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen, die auf der für verfassungswidrig erklärten Regelung beruhen, erfassen (vgl. dazu BVerfGE 133, 377 <423 Rn. 108>).“

Damit sagt das Gericht, dass die derzeitige Verjährungsnorm unvollständig ist und der Gesetzgeber diese ergänzen muss. Die Vorgabe des BVerfG, die Norm nicht mehr anzuwenden, sollte jedoch nicht bedeuten, generell keine Erschließungsbeitragsbescheide mehr auszustellen. Vielmehr sollte in Rheinland-Pfalz eine angepasste Landesregelung abgewartet werden in Fällen, wo die Vorteilslage bereits deutlich vor Entstehung der Beitragspflicht eingetreten ist.

Um jetzt in allen Fällen Rechtssicherheit zu erlangen, muss der Landesgesetzgeber daher schnellstmöglich eine verfassungsgemäße Änderung des KAG RP herbeiführen. Anhaltspunkte für eine künftige Regelung können andere Länder geben, die überwiegend in ihren Gesetzen 20-Jahres-Fristen vorsehen.

Wichtig für die Kommunen ist zu betonen, dass trotz des Urteils auch weiterhin Erschließungsbeiträge erhoben werden können, wenn eine erstmalige Herstellung einer Anbaustraße vorliegt. Dies kann auch der Fall sein, wenn beispielsweise jahrzehntelang nur ein unfertiger Wirtschaftsweg vorliegt. Der Eindruck, dass auch diese unfertige Form der Erschließung ohne die auch vom BVerfG beschriebenen notwendigen Merkmale bereits das Eintreten einer Vorteilslage bewirkt, muss in jedem Fall vermieden werden.

Weitere Informationen

Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.11.2021: www.bundesverfassungsgericht.de

Entscheidung auf der Webseite des Bundesverfassungsgerichts:

www.bundesverfassungsgericht.de

Az.: 21.2.1-005/002mag

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