Keine Zukunft ohne Städte und Gemeinden

Seit dem 1. Januar 2021 ist Christof Sommer Hauptgeschäftsführer beim Städte- und Gemeindebund NRW. Mit seinem Vorgänger Dr. Bernd Jürgen Schneider sprach er zuvor im Doppel-Interview über persönliche Prägung, drastische Veränderungen in Verwaltung und Politik sowie die zentralen Herausforderungen für Kommunen.

Städte- und Gemeinderat: Herr Dr. Schneider, nach fast 30 Jahren beim Städte- und Gemeindebund NRW, davon 18 als Hauptgeschäftsführer, geben Sie jetzt auf eigenen Wunsch das Zepter weiter. Was macht das mit Ihnen?

Dr. Bernd Jürgen Schneider: Mir fällt der Schritt nicht leicht, das sage ich ganz offen. 30 Jahre lang aktiv mitgestalten zu können und das immer mit einem guten Feedback, das macht einen stolz. In den Gremien, im Präsidium gab es immer ein gutes Miteinander. Die Partei hat dabei keine Rolle gespielt, es ging immer um die Sache. Das hat Spaß gemacht. Auch, weil wir dank dieser Geschlossenheit einiges bewegen konnten. Nach einer so intensiven Zeit blutet einem beim Abschied das Herz, ist doch klar. Aber mit Christof Sommer hat der Verband einen super Nachfolger gefunden, das macht es etwas leichter.

Wie sehen die Pläne für die Zukunft aus?

Dr. Bernd Jürgen Schneider: Ich bin ja noch fit, gefühlt könnte ich 100.000 Jahre weitermachen. Ganz werde ich der kommunalen Familie auch nicht verlorengehen, so viel kann ich schon sagen. Die Aussicht auf freie Zeit in meiner zweiten Heimat Italien finde ich auch verlockend, ich liebe das Land und die Leute. Außerdem werde ich bald Großpapa, darauf freue ich mich sehr. Da kann ich mit dem Enkelkind nach Herzenslust Blödsinn anstellen.

Kommt da Neid auf, Herr Sommer?

Christof Sommer: Es geht noch. Ich habe ja mit meiner neuen Aufgabe beim Städte- und Gemeindebund eine ganz andere Perspektive. Da braucht man nicht neidisch zu sein, sondern kann sich freuen und die Sache mit Schwung angehen.

Werden Sie nicht nach 21 Jahren als Bürgermeister den direkten Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern vermissen?

Christof Sommer:
Man wird ja nicht einsam, wenn man beim Städte- und Gemeindebund arbeitet. Im Gegenteil, ich darf mich auch weiterhin mit vielen Menschen auseinandersetzen. Ich habe mir fest vorgenommen, viel unterwegs zu sein und den Kontakt zur Basis zu pflegen, genauso wie Bernd Schneider das getan hat. Ohne das regelmäßige, hautnahe Feedback aus den Rathäusern könnten wir beim Städte- und Gemeindebund NRW nur halb so gute Arbeit leisten.

Dr. Bernd Jürgen Schneider: Wenn ich das einstreuen darf: Genau das ist das Schönste beim Verband. Die Veranstaltungen und Diskussionen mit den Ratsleuten, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern habe ich immer sehr genossen. Alle Beteiligten hoch engagiert, immer konstruktiv, immer intellektuell bereichernd.

Wo sehen Sie in der Verbandsarbeit weitere aktuelle Schwerpunkte?

Christof Sommer: In meiner Zeit als Bürgermeister war der Städte- und Gemeindebund NRW immer das Kompetenzzentrum für kommunale Fragen. Das ist auch der einhellige Tenor im ehemaligen Kollegenkreis der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Bei rechtlichen Fragen, Anliegen gegenüber der Landesregierung oder auch guter Beratung in Fachfragen ist erster Ansprechpartner immer der Verband. Dieses hohe Niveau beizubehalten, ist unser Anspruch und unsere erste Verpflichtung.

Da kommt viel auf uns zu, denn das Aufgabenspektrum der Kommunen wächst rasant. Man muss sich immer wieder klar machen, dass die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland weltweit einzigartig ist. Unsere Städte, Gemeinden und Kreise verantworten erheblich mehr Dinge als das in anderen Ländern üblich ist. Das hat eine große Vielfalt an Themen und Zuständigkeiten zur Folge. Nennen Sie mir ein Landesgesetz, an dessen Umsetzung die Kommunen nicht beteiligt sind. Da müssen Sie schon mit der Lupe suchen.

Dr. Bernd Jürgen Schneider: Die Kommunen sind immer diejenigen, die die großen Zukunftsprojekte umsetzen. Konkret wird Veränderung vor Ort erst in den Städten und Gemeinden. Und die Bevölkerung erwartet Veränderung, vor allem beim Verkehr und beim Klimaschutz. Wir brauchen Grünflächen, gesunde Luft und stets verfügbare Mobilitätsangebote. Hinzu kommt der Wandel der Innenstädte, weg vom Shopping-Ziel hin zum Zentrum für Austausch, Kultur und Miteinander. Wir müssen die Städte neu denken.

Christof Sommer: Dieser Umbau wird die Kommunen auf Jahre intensiv beschäftigen. Die Flächen in den Städten sind begrenzt und können - beispielsweise in einer historischen Altstadt - nicht beliebig bebaut werden. Da braucht es clevere und pragmatische Lösungen. Und auch dafür wird es Zeit brauchen. Die Themen Klima und Mobilität sind hoch emotional, wir können uns vor Ort auf jede Menge heißer Diskussionen einstellen. Ob Klimaschutz oder die Neuaufteilung der Verkehrsflächen - den einen geht es nicht schnell genug, andere wehren sich mit Händen und Füßen. Diese Veränderungsprozesse müssen wir klug moderieren.

Die Verwerfungen durch Corona sind damit noch gar nicht angesprochen…

Christof Sommer: Die Pandemie wird tiefe Spuren hinterlassen, völlig klar. Allein finanziell wird es hart. Im Haushalt dürfen die Kommunen jetzt die coronabedingten Schäden separieren. Kurzfristig konnten wir mit diesem Bilanz-Kniff unsere Handlungsfähigkeit sicherstellen. Die Schulden bleiben uns jedoch erhalten. Die Kommunen müssen sie über Jahrzehnte abstottern, das heißt, es steht jedes Jahr weniger Geld zur Verfügung. Dabei brauchen wir die Mittel eigentlich dringend für Investitionen in die Zukunft.

Für uns ist klar: Die Kommunen benötigen in den kommenden Jahren dringend weitere finanzielle Unterstützung. Fest steht auch: Ohne uns geht nichts in diesem Land. Bund und Land wissen genau, da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Mut machen mir dabei vor allem der große Zusammenhalt der Städte und Gemeinden und das Wissen, hier im Verband ein exzellentes Team an meiner Seite zu haben.

Was hat Sie eigentlich in die Politik geführt?

Dr. Bernd Jürgen Schneider: Ich war in den 80er-Jahren Rechtsamtsleiter in Dormagen, wollte mich aber neu orientieren. Da rief abends der Büroleiter von CDU-Fraktionschef Bernhard Worms an - er war zu der Zeit ehrenamtlicher Bürgermeister in Dormagen – und bot mir eine Stelle als Referent an. Das fand ich spannend, der Landtag war für mich kleinen Rechtsamtsleiter etwas ganz Großes. An dem Tag, an dem ich mich der Fraktion vorstellte, kam auch noch zufällig Helmut Kohl vorbei und schüttelte mir die Hand. Ich bin vor Ehrfurcht erstarrt. Da gab es dann kein Zurück mehr.

Christof Sommer: Mit Kohl kann ich jetzt nicht aufwarten, aber der Zufall hat auch bei mir eine Rolle gespielt: Ich hatte mich auf eine halbe Stelle im Rechtsamt des Kreises Steinfurt beworben und bin stattdessen als Referent beim Oberkreisdirektor gelandet - ein Fulltime-Job, eng angebunden an Politik und kommunale Themen. Das war der Start. Vor allem die Vielfalt der Aufgaben hat mich elektrisiert. Auch als Bürgermeister. Da fliegen Ihnen schon morgens vor der ersten Tasse Kaffee die ersten Themen auf den Tisch. Kita-Beiträge, Straßenbeleuchtung, Jugendgerichtshilfe und so weiter. Das ist vielleicht nicht jedermanns Sache. Aber für mich war immer klar, frei nach Franz Müntefering: Das Bürgermeisteramt ist das schönste Amt der Welt nach dem Papst.

Wenn Sie an die Anfänge Ihres Berufslebens zurückdenken, was hat sich am meisten verändert?

Dr. Bernd Jürgen Schneider: Die Geschwindigkeit. Früher gab es die Kugelkopfschreibmaschine. Da hat der Stadtdirektor etwas geschrieben, an den Verband geschickt, dann ging das an den Referenten, den Hauptgeschäftsführer und dann gab es einen Brief mit Antworten. Gesamtdauer etwa 14 Tage. Heute schickt der Bürgermeister um 9.05 eine E-Mail und wird mittags nervös, wenn er noch keine Rückmeldung erhalten hat. Beim Verband sind wir mittlerweile rund um die Uhr auf Sendung.

Christof Sommer: Die Digitalisierung hat die Taktung extrem beschleunigt, auch in den Kommunen. Corona hat gezeigt, wie schnell und flexibel die Verwaltungen inzwischen geworden sind. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie wir mit der Pandemie im Zeitalter der Kugelkopfschreibmaschine klargekommen wären.

Wie haben sich die Handlungsspielräume der Kommunen entwickelt?

Christof Sommer: Ein leidiges Dauerthema. Gemessen an personellen Ressourcen und den finanziellen Möglichkeiten sind die Städte und Gemeinden für die Vielzahl an Aufgaben nicht annähernd ausreichend ausgestattet, das ist eine Binsenweisheit. Wir haben gelernt, dass wir immer dann aufpassen müssen, wenn in Berlin neue Wohltaten angekündigt werden, zuletzt etwa der Anspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Ein solcher Rechtsanspruch ist für eine moderne Familienpolitik fraglos eine gute Sache, sollte dann aber bitte auch gegenfinanziert werden. Wer bestellt, bezahlt, daran müssen wir immer wieder erinnern. Die Erfahrung zeigt leider: Sobald auf Bundesebene von einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gesprochen wird, müssen bei uns die Alarmglocken angehen.

Dr. Bernd Jürgen Schneider: Umso dankbarer bin ich, dass auf Landesebene seit 2004 das Konnexitätsprinzip greift, für das wir jahrzehntelang gestritten haben. Das Land ist seitdem weitaus vorsichtiger mit Geschenken.

Neue Entwicklungen beobachten wir auch in der politischen Kultur. Müssen wir uns Sorgen machen um die Demokratie?

Christof Sommer: Ich fürchte ja. Das politische System halte ich für stabil. Aber dass wir in Deutschland in diesem Ausmaß mit drohender Spaltung und Extremismus zu tun haben, hätte ich vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten. Das zeigt: Der Zusammenhalt ist kein Naturzustand, sondern wir müssen jeden Tag aufs Neue dafür kämpfen. Die Städte und Gemeinden nehmen dabei eine Vorbildrolle ein. Wir kennen die Wirklichkeit, wir stehen in unmittelbarem Kontakt zu den Menschen, wir sind gefordert, im direkten Austausch zu erklären, zu übersetzen und auch zu streiten. Zuhören natürlich auch.

Dr. Bernd Jürgen Schneider: Demokratie ist anstrengend. Aber es lohnt sich, dafür einzustehen. Deutschland ist ein tolles Land. Wir haben eine hohe Integrationskraft, ein belastbares Gesundheitssystem, eine unabhängige Justiz und eine tolle Polizei, trotz der paar Verrückten in den Chatgruppen. Ich möchte in keinem anderen Land leben. Christof Sommer hat zu hundert Prozent recht: In den Städten und Gemeinden müssen wir den demokratischen Diskurs Tag für Tag vorleben. Freundlich, fair, in der Sache hart, aber kompromissfähig. Das ist eine Aufgabe für den Verband, für die Kommunen, aber auch jeden einzelnen.

Bevor wir zum Ende kommen: Möchten Sie Herrn Sommer noch einen guten Rat mit auf den Weg geben, Dr. Schneider?

Dr. Bernd Jürgen Schneider: Das ist nicht ganz einfach. Johannes Rau hat mal gesagt: „Auch Ratschläge können Schläge sein“, da halte ich mich lieber zurück. Vielleicht so viel: In meiner Berufszeit habe ich immer gute Erfahrungen damit gemacht, allen Menschen mit Respekt und Offenheit zu begegnen. Und zwar egal, ob in der Geschäftsstelle, der Landesregierung oder in den Kommunen. Auch wenn es gelegentlich schwerfällt. Man sieht sich immer zweimal. Ich bin überzeugt, dass ich Christof Sommer damit aber nichts Neues erzähle. Nach 21 Jahren im Amt des Bürgermeisters hat er die richtigen Umgangsformen sicher schon verinnerlicht.

Wir bedanken uns herzlich für das gute Gespräch.

[Das Interview führte Philipp Stempel]

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