Mitteilungen - Bauen und Vergabe

StGB NRW-Mitteilung 879/2004 vom 22.11.2004

Großflächiger Einzelhandelsbetrieb

Bei der Abgrenzung der "großflächigen" Einzelhandelsbetriebe i. S. des § 11 III 1 Nr. 2 BauNVO von sonstigen Einzelhandelsbetrieben zwingen Überschreitungen des Verkaufsflächenmaßes von 700 qm (vgl. hierzu: BVerwG, NVwZ 1987, 1076) selbst dann, wenn sie eine Größenordnung bis zu 100 qm erreichen, nicht schon für sich genommen zu dem Schluss, dass das Merkmal der Großflächigkeit erfüllt ist.

BVerwG, Beschl. v. 22.07.2004 - 4 B 29/04 (Münster)

Der beschließende Senat hat zu dem von der Kl. angesprochenen Problemkreis in den Urteilen vom 22.05.1987 (BVerwG, BRS 47 Nr. 56 = NVwZ 1987, 1076 = Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 9; BVerwG, Buchholz 310 § 75 VwGO Nr. 13 = NVwZ 1987, 969) grundsätzlich Stellung genommen. Er hat sich seinerzeit auf den Standpunkt gestellt, dass die Schwelle zur Großflächigkeit "nicht wesentlich unter 700 qm, aber auch nicht wesentlich darüber liegt". Diese Aussage, die keine starre Grenzlinie bezeichnet, sondern als bloße Orientierungshilfe dient, ist weiterhin geeignet, die ihr zugedachte Abgrenzungsfunktion zu erfüllen. Der genannte Richtwert lässt Raum für eine flexible Handhabung, die dem von der Kl. beschriebenen Wandel ausreichend Rechnung trägt. Der Senat hätte keine Veranlassung, sich in dem erstrebten Revisionsverfahren auf eine andere Größenangabe festzulegen.

Einzelhandelsbetriebe sind unter näher bestimmten Voraussetzungen, gegebenenfalls als Läden oder sonstige Gewerbebetriebe, in den Baugebieten zulässig, die in der Baunutzungsverordnung aufgeführt sind. Einem Sonderregime unterliegen "großflächige" Einzelhandelsbetriebe, die nach § 11 III 1 BauNVO nur in Kerngebieten oder eigens für sie festgesetzten Sondergebieten zugelassen werden können. Dies beruht zwar maßgeblich auf der Erwägung, dass sich solche Betriebe nachteilig auf die in § 11 III 2 BauNVO genannten Belange auswirken können. Der Normgeber lässt es bei der Abgrenzung der nur in Kerngebieten und in Sondergebieten zulässigen Einzelhandelsbetriebe aber nicht damit bewenden, auf diese Auswirkungen abzustellen. Vielmehr misst er daneben dem Erfordernis der Großflächigkeit eigenständige Bedeutung bei. Anders als bei den in § 11 III 2 BauNVO bezeichneten Auswirkungen hebt der Verordnungsgeber insoweit nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse und die individuellen Betriebsmerkmale (Art, Lage, Umfang) ab. Der Begriff der Großflächigkeit dient ihm dazu, in typisierender Weise unabhängig von regionalen oder lokalen Besonderheiten bundesweit den Betriebstyp festzuschreiben, der von den in den §§ 2 bis 9 BauNVO bezeichneten Baugebieten ferngehalten werden soll. Freilich sieht er davon ab, einen zahlenmäßig bestimmten Maßstab vorzugeben. Größenangaben macht er nur im Zusammenhang mit der von ihm in § 11 III 3 BauNVO aufgestellten Vermutungsregel. Danach sind insbesondere schädliche Umwelteinwirkungen sowie Auswirkungen auf die infrastrukturelle Ausstattung, auf den Verkehr und auf die Versorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich der in § 11 III 1 BauNVO aufgeführten Einzelhandelsbetriebe in der Regel anzunehmen, wenn die Geschossfläche 1200 qm überschreitet. Nach der gesetzgeberischen Konzeption verbietet sich die Annahme, dass diese Grenze auch den Übergang zur Großflächigkeit markiert. Wie sich aus § 11 III 4 BauNVO ergibt, ist die Vermutungsregel des Satzes 3 widerleglich. Abweichungen kommen nicht nur nach oben, sondern auch nach unten in Betracht. Schon aus diesem Grund muss das Tatbestandsmerkmal der Großflächigkeit, soll es nicht leer laufen, eine niedrigere Schwelle bezeichnen. Der Umstand, dass der Verordnungsgeber davon absieht, sich über die Vermutungsregel des § 11 III 3 BauNVO hinaus auch im Rahmen der Bestimmung der Großflächigkeit der Geschossfläche als Maßstab zu bedienen, legt es ebenfalls nahe, insoweit einen anderen Anknüpfungspunkt zu wählen. Der Sinn der Regelung besteht darin, Einzelhandelsbetriebe, die sich als Einrichtungen der wohnungsnahen Versorgung in die Gebietstypik der ausschließlich, überwiegend oder doch auch dem Wohnen dienenden Gebiete einpassen, von Einzelhandelsbetrieben abzugrenzen, die diesen Rahmen sprengen. Aus dieser Zweckbestimmung hat der Senat gefolgert, dass maßgeblich auf die Größe der Verkaufsfläche abzustellen ist (vgl. BVerwG, NVwZ 1987, 1076 = Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 9 = BRS 47 Nr. 56). Als Obergrenze für Einzelhandelsbetriebe der wohnungsnahen Versorgung hat er unter Anerkennung einer gewissen Schwankungsbreite 700 qm angegeben. Mit dieser Größenannahme hat er die Grenze zur Großflächigkeit hin deutlich unterhalb der Verkaufsfläche gezogen, von der ab nach den Wertungen des Verordnungsgebers bei den damaligen Verhältnissen im Einzelhandel mit nachteiligen Auswirkungen i. S. des § 11 III 2 BauNVO zu rechnen war. Wie aus der Begründung zur Dritten Verordnung zur Änderung der Baunutzungsverordnung vom 07.11. 986 zu ersehen ist (BR-Dr 541/86), entsprach die Geschossfläche von 1200 qm, die im Rahmen der Vermutungsregel des § 11 III 3 BauNVO als Indikator dient, seinerzeit "nach den Erfahrungen der Praxis" ungefähr einer Verkaufsfläche von 800 qm. Die restlichen 400 qm entfielen beim damaligen Stand der Entwicklung auf Lager- und auf sonstige Betriebsflächen. Der Senat hat diesen betrieblichen Gegebenheiten Rechnung getragen. Gleichzeitig hat er aber zum Ausdruck gebracht, dass es "im Hinblick auf das Einkaufsverhalten der Bevölkerung wie auf dementsprechende Entwicklungen im Handel" nicht angebracht sei, sich beim Merkmal der Großflächigkeit "allzu starr" an den von ihm genannten Richtwert von 700 qm zu klammern (BVerwG, NVwZ 1987, 1076 = Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 9 = BRS 47 Nr. 56).

Sollten Tatsachengerichte, gestützt auf geeignetes Erkenntnismaterial, zu dem Ergebnis gelangen, dass der Verbraucher unter den heutigen Verhältnissen auch im Rahmen der Nahversorgung einen bestimmten Ausstattungsstandard erwartet, der vor dem Hintergrund der veränderten Betriebsstrukturen im Einzelhandel selbst bei einer Annäherung an die aus der Sicht des Verordnungsgebers kritische Marke von 800 qm Verkaufsfläche negative Auswirkungen i. S. des § 11 III 2 BauNVO nicht befürchten lässt (vgl. OVG Koblenz, NVwZ-RR 2001, 573 = BRS 64 Nr. 75; wie das BerGer. entschieden zurückhaltender OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2003, 486 = BRS 65 Nr. 69; vgl. auch VGH Mannheim, VBlBW 2000, 279), so wird sich dies revisionsrechtlich voraussichtlich nicht beanstanden lassen. Der Senat hat bereits im Urteil vom 22.05.1987 (NVwZ 1987, 1076 = Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 9 = BRS 47 Nr. 56) klargestellt, dass der Begriff der Großflächigkeit keine statische Größe ist. Überschreitungen des Richtwerts von 700 qm zwingen selbst dann, wenn sie eine Größenordnung bis zu 100 qm erreichen, nicht zu dem Schluss, dass das Merkmal der Großflächigkeit erfüllt ist. Zu einer weiteren Modifikation seiner Rechtsprechung sieht der Senat indes keinen Anlass, solange der Verordnungsgeber an dem Konzept festhält, das der Vermutungsregel des § 11 III 3 BauNVO zu Grunde liegt. Eine Heraufsetzung der Richtgröße an Stelle eines flexibleren Umgangs mit dem im Urteil vom 22.05.1987 genannten Wert von 700 qm würde der inneren Systematik des § 11 III BauNVO, die auf zwei Tatbestandspfeilern - der Großflächigkeit und der Vermutungsregelung - ruht, zuwiderlaufen. Die Großflächigkeit wird als eigenständiges Tatbestandsmerkmal funktionslos, wenn die für sie maßgebliche Verkaufsfläche sich nicht mehr deutlich von der Verkaufsfläche unterscheidet, die als ein in der Geschossfläche enthaltenes wesentliches Flächenelement im Rahmen des § 11 III 3 BauNVO für die Beurteilung der Frage eine Rolle spielt, ob negative Folgen i. S. des § 11 III 2 BauNVO zu besorgen sind.

Die Arbeitsgruppe "Strukturwandel im Lebensmitteleinzelhandel und § 11 III BauNVO" geht in ihrem Bericht vom 30.04.2002 (ZfBR 2002, 598) davon aus, "dass auch oberhalb des Regelvermutungswertes von 1200 qm Geschossfläche Anhaltspunkte dafür bestehen können, dass die in § 11 III 2 BauNVO bezeichneten Auswirkungen nicht vorliegen. Bezogen auf Lebensmittelsupermärkte können sich solche Anhaltspunkte nach § 11 III 4 BauNVO insbesondere aus der Größe der Gemeinde/des Ortsteils, aus der Sicherung der verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung und dem Warenangebot des Betriebes ergeben". Die Arbeitsgruppe hebt hervor, "dass dem Lebensmitteleinzelhandel eine besondere Bedeutung im Hinblick auf die Sicherung einer verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung zukommt, so dass von großflächigen Lebensmitteleinzelhandelsbetrieben in größeren Gemeinden und Ortsteilen auch oberhalb der Regelvermutungsgrenze von 1200 qm auf Grund einer Einzelfallprüfung dann keine negativen Auswirkungen auf die Versorgung der Bevölkerung und den Verkehr ausgehen können, wenn der Non-Food-Anteil weniger als 10% der Verkaufsfläche beträgt und der Standort verbrauchernah und hinsichtlich des induzierten Verkehrsaufkommens "verträglich" sowie städtebaulich integriert ist". Auf der Grundlage dieser Stellungnahme lassen sich unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles sachgerechte Standortentscheidungen für den Lebensmitteleinzelhandel treffen, ohne dass der Hebel beim Merkmal der Großflächigkeit angesetzt werden muss.

Az.: II/1 611-22

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