Heft Januar-Februar 2020

 

Stichwahlen bei Bürgermeister- und Landratswahlen

 

In einem von 83 Abgeordneten des Landtags eingeleiteten Normenkontrollverfahren hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster (VerfGH) am 20.12.2019 entschieden, dass die Abschaffung der Stichwahlen bei Bürgermeister- und Landratswahlen gegen Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats verstößt. Mit der Landesverfassung vereinbar sei hingegen die Neuregelung zur Größe der Wahlbezirke für die Wahlen zu den Räten und Kreistagen. Die Vorgaben zur Abweichungstoleranz bei der Wahlbezirksgröße müssten aber einschränkend ausgelegt werden.

 

VerfGH NRW, Urteil vom 20.12.2019
- Az.: VerfGH 35/19 -

 

Im Jahr 2007 wurde die Stichwahl bei den Bürgermeister- und Landratswahlen erstmals abgeschafft, was nach einer Entscheidung des VerfGH aus dem Jahr 2009 auf Basis der vom Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt zugrunde gelegten Verhältnisse auch mit der Landesverfassung vereinbar war. Nach der Wiedereinführung der Stichwahl im Jahr 2011 wurde das Wahlverfahren durch Änderung des § 46c des Kommunalwahlgesetzes NRW erneut als einstufige Wahl mit relativer Mehrheit ausgestaltet.

 

Zur Einteilung der Wahlbezirke sah die bisherige Regelung in § 4 Abs. 2 Kommunalwahlgesetz NRW unter anderem vor, dass die Einwohnerzahl in einem Wahlbezirk nicht mehr als 25 vom Hundert von der durchschnittlichen Einwohnerzahl der Wahlbezirke im Wahlgebiet nach oben oder unten abweichen darf. Die Vorschrift wird nunmehr ergänzt durch die Vorgabe, dass bei der Ermittlung der Einwohnerzahl unberücksichtigt bleibt, wer nicht Deutscher im Sinne von Artikel 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist oder nicht die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union besitzt.

 

Die Antragstellerinnen und Antragsteller machten im Wesentlichen geltend, die erneute Abschaffung der Stichwahl zugunsten einer einstufigen Wahl mit relativer Mehrheit sowie die Neuregelung zur Einteilung der Wahlbezirke verletzten das Demokratieprinzip und die Chancengleichheit der politischen Parteien. Im Hinblick auf die Stichwahl liege insbesondere ein Verstoß gegen die dem Gesetzgeber aufgegebene Begründungs- und Beobachtungspflicht vor.

 

Der VerfGH gab dem Antrag im Ergebnis statt. Für die Frage, ob die Bürgermeister- und Landratswahlen den Gewählten eine hinreichende demokratische Legitimation vermittelten, sei neben der Wahlbeteiligung der erreichte Zustimmungsgrad von Bedeutung. Die verfassungsrechtliche Beurteilung hänge insoweit von den zugrunde liegenden normativen und tatsächlichen Verhältnissen ab. Je höher der zu erwartende Anteil der obsiegenden Kandidatinnen und Kandidaten sei, die im einzigen Wahlgang lediglich eine weit von der absoluten Mehrheit entfernte relative Mehrheit erreichten, umso mehr sei das demokratische Prinzip der Mehrheitswahl tangiert. Die diesbezügliche Beurteilung sei grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, vom Verfassungsgerichtshof aber daraufhin zu überprüfen, ob sie auf einer vollständigen tatsächlichen und rechtlichen Grundlage beruhe. Gemessen daran verfehle die Prognose des Gesetzgebers, die einstufige Direktwahl der kommunalen Hauptverwaltungsbeamten und -beamtinnen mit relativer Mehrheit führe zu einer Stärkung demokratischer Legitimation, die verfassungsrechtlichen Anforderungen. Es fehle an einer Einbeziehung relevanter Tatsachen. Der Gesetzgeber habe sich darauf beschränkt, die vergangenen Kommunalwahlen im Hinblick auf die Wahlbeteiligung und die Bedeutung der Stichwahl statistisch auszuwerten, ohne die in diesem Zusammenhang bedeutsame zunehmende Zersplitterung der Parteienlandschaft zumindest in den Blick zu nehmen. Dies falle umso mehr ins Gewicht, als diese Entwicklung des Parteienwesens den Gesetzgeber mit den Stimmen von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bereits im Jahr 2016 veranlasst hatte, eine Sperrklausel für Rats- und Kreistagswahlen in Höhe von 2,5 % auf Verfassungsebene einführen zu wollen.

 

Die von den Antragstellerinnen und Antragstellern ebenfalls angegriffene Neuregelung, wonach nur Deutsche sowie EU-Ausländer und EU-Ausländerinnen bei der Berechnung der Einwohnerzahl der einzelnen Wahlbezirke berücksichtigt werden, sei dagegen mit der Landesverfassung vereinbar. Sie führe zu einer verbesserten Realisierung der Wahlrechts- und Chancengleichheit, die grundsätzlich eine Einteilung des Wahlgebietes in gleich große Wahlkreise ausgehend von der Zahl der Wahlberechtigten gebiete. Die mit dieser Neuregelung im Zusammenhang stehende Bestimmung zur zulässigen Abweichungstoleranz bei der Einteilung der Wahlbezirke von bis zu 25 % bedürfe der einschränkenden, sogenannten verfassungskonformen Auslegung: Eine Abweichung von mehr als 15 % erfordere eine besondere Rechtfertigung. Eine Differenz von bis zu 15 % sei vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt, weil gewisse Abweichungen aufgrund des stetigen Bevölkerungswandels unvermeidbar seien. Die (volle) Ausschöpfung der Abweichungstoleranz von 25 % bringe aber einen nicht unerheblichen Eingriff in die Wahlrechts- und die Chancengleichheit mit sich und müsse deshalb im Einzelfall durch die jeweilige Kommune verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. Als legitimer Grund komme das gesetzlich verankerte Ziel der Wahrung räumlicher Zusammenhänge in Betracht. Hinter diesem Aspekt müssten indes verfassungsrechtliche Ziele stehen, die ein der Wahlrechts- und Chancengleichheit vergleichbares Gewicht besäßen. Eine pauschalierende Anwendung der 25 %-Klausel zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung werde diesem Erfordernis nicht gerecht. Die Verwaltungsvereinfachung sei - ebenso wie der Gesichtspunkt einer leichteren Zuordnung des jeweiligen Wahlbezirks zu einem Wohngebiet - kein durch die Verfassung legitimierter Grund, der sich mit der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten könne.

 

Die Verfassungsrichterin Prof. Dr. Dauner-Lieb sowie die Verfassungsrichter Prof. Dr. Heusch und Dr. Röhl haben ein Sondervotum abgegeben, das sich lediglich auf die Entscheidung des Senats zur Abschaffung der Stichwahl bezieht. Sie gehen davon aus, dass die Entscheidung des Landesgesetzgebers zur Abschaffung eines zweiten Wahlgangs bei der Wahl der Hauptverwaltungsbeamten und -beamtinnen der Gemeinden und Kreise mit der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen vereinbar sei, insbesondere auch mit dem dort verankerten Demokratieprinzip und den verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätzen. Die Senatsmehrheit überhöhe den demokratischen Gehalt von Stichwahlen und verliere dabei die zumeist sinkende Wahlbeteiligung bei solchen Wahlen aus dem Blick. Das Gericht dürfe nicht die tatsächlichen und rechtlichen Wertungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers durch seine eigenen ersetzen.

 

 

 

Redezeiten im Rat

 

In einem Rechtsstreit um die Redezeiten im Rat der Stadt Brilon und in dessen Ausschüssen haben fünf Ratsmitglieder vor Gericht einen Teilerfolg erzielt.

 

VG Arnsberg, Urteil vom 05.12.2019
- Az.: 12 K 7751/17 -

 

Das Verwaltungsgericht Arnsberg hat entschieden, dass eine im Juli 2017 vom Rat der Stadt Brilon mehrheitlich beschlossene Verkürzung von Redebeiträgen und Redezeiten im Hinblick auf die Ratssitzungen selbst zwar nicht zu beanstanden ist, die Ratsmitglieder aber in innerorganschaftlichen Rechten insoweit verletzt sind, als diese Redezeitbegrenzungen auch für die Sitzungen der Ausschüsse des Rates gelten.

 

In der Geschäftsordnung für den Rat und die Ausschüsse der Stadt Brilon war jedem Ratsmitglied ursprünglich das Recht eingeräumt worden, zu jedem Punkt der Tagesordnung einer Rats- oder Ausschusssitzung bis zu dreimal zu sprechen. Dabei war die Höchstdauer eines Redebeitrages auf im Regelfall zehn Minuten begrenzt worden, wobei diese durch Beschluss des Rates verlängert oder verkürzt werden konnte. Anträge zur Geschäftsordnung blieben von der Beschränkung unberührt. Auf den Antrag einer der beiden großen Ratsfraktionen änderte der aus 38 Mitgliedern bestehende Rat der Stadt Brilon die maßgebliche Geschäftsordnungsbestimmung im Juli 2017 auf höchstens zwei Wortbeiträge pro Tagesordnungspunkt und eine Redezeit von im Regelfall höchstens fünf Minuten ab. Die auch schon in der Ursprungsfassung der Geschäftsordnungsnorm vorgesehene Verlängerungs- und Verkürzungsmöglichkeit sowie die Ausnahmeregelung hinsichtlich der Geschäftsordnungsanträge blieben erhalten. Zur Begründung des Änderungsantrags war auf die immer länger andauernden Rats- und Ausschusssitzungen der jüngeren Vergangenheit verwiesen worden.

 

Gegen den Ratsbeschluss aus Juli 2017 haben die Kläger, die keiner der beiden großen Fraktionen im Rat der Stadt Brilon angehören, im August 2017 Klage erhoben. Das Verwaltungsgerichts Arnsberg hat nunmehr entschieden, dass die Kläger durch die vorbenannte neue Geschäftsordnungsbestimmung in dem ihnen als Mitglieder des Rates zustehenden Recht auf Rede nur insoweit verletzt sind, als die Redezeitbeschränkung auch für die Ausschusssitzungen gilt, die Regelung im Hinblick auf die Ratssitzungen selbst jedoch nicht beanstandet. Insoweit ist in den Entscheidungsgründen des Urteils ausgeführt:

 

Das Rederecht gehöre zum Statuskern des Ratsmitgliedes. Dementsprechend stehe jedem Ratsmitglied grundsätzlich das Recht zu, seine Stimme im Plenum des Rates zu erheben. Denn das öffentliche Verhandeln von Argument und Gegenargument vor der Abstimmung sei ein wesentliches Element des demokratischen Entscheidungsfindungsprozesses und gebe den Abgeordneten, insbesondere denen der Minderheiten, die Möglichkeit, ihre Auffassung darzustellen, auf die Diskussion einzuwirken und damit ein Ergebnis in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das Rederecht gelte jedoch nicht unbegrenzt, sondern werde durch die Erfordernisse eines ordnungsgemäßen Geschäftsganges des Rates begrenzt. Es könne zur Sicherung der Effektivität und Funktionsfähigkeit des Rates sowie zur Abstimmung mit den Rederechten der anderen Ratsmitglieder in der Geschäftsordnung des Rates näher ausgestaltet und eingeschränkt, insbesondere zeitlich begrenzt werden. Dabei stehe dem Rat prinzipiell ein weites Ermessen zu. Dieser könne bei der Regelung der Redezeiten auch den Aspekt der nur begrenzten Zeitkontingente der nur ehrenamtlich tätigen Ratsmitglieder sowie den Umstand berücksichtigen, dass Entscheidungen des Rates in der Regel in Fraktionen und in den Ausschüssen des Rates vorbereitet und in der Regel schon so weit abgestimmt würden, dass eine Änderung der dabei entstandenen Meinungsbildung nach kontroverser Diskussion im Rat nicht die Regel sei.

 

Dementsprechend sei die Geschäftsordnungsbestimmung, die eine Begrenzung auf zwei Wortbeiträge zu in der Regel je fünf Minuten Dauer vorsehe, für die Sitzungen des Rates selbst nicht zu beanstanden, da dem Rederecht der Ratsmitglieder mit dieser Ausgestaltung noch hinreichend Rechnung getragen werde. Auch kleinere, nur aus zwei Ratsmitgliedern bestehende Fraktionen hätten die Möglichkeit, sich mit einer Redezeit von bis zu 20 Minuten pro Tagesordnungspunkt in einer Ratssitzung ausreichend zu äußern und in der Beratung auch auf vorangegangene Beiträge zu erwidern. Das dennoch zu konstatierende höhere zeitliche Gewicht potenzieller Wortbeiträge von Mitgliedern größerer Fraktionen, die zu einem Beratungspunkt tendenziell in die gleiche Richtung zielen dürften, sei durch das größere Wählervertrauen in diese gerechtfertigt.

 

Allerdings stehe die Beschränkung auf zwei Redebeiträge à fünf Minuten mit der Funktion von Ausschüssen im kommunalen Gefüge nicht in Einklang. Denn in den Ausschüssen stehe regelmäßig die Sacharbeit von Mitgliedern im Vordergrund, die sich auf das jeweilige Fachgebiet spezialisiert bzw. hieran ein besonderes Interesse hätten. In den kleineren Gremien würden wichtige Fragen - sowohl ganze Aufgabengebiete als auch Einzelfragen - vorberaten und die Entscheidungen des Rates vorbereitet. In der Praxis finde die inhaltliche Befassung und Diskussion vor allem in den Ausschüssen statt; im Rat werde auf der Grundlage der in den Ausschüssen geführten Beratungen in der Regel nur noch abgestimmt. Diese Arbeit in den Ausschüssen könne auf der Grundlage der beschlossenen Redezeitbeschränkungen jedoch nicht sachgerecht geleistet werden. Dies gelte umso mehr, als gerade die umfassende und erschöpfende Erörterung in den Ausschüssen eine konzentriertere Debatte im Rat - auch einhergehend mit entsprechenden Redezeitbeschränkungen - ermögliche.

 

Gegen das Urteil kann die Zulassung der Berufung beantragt werden.

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